1042. An Johanna Keßler

[61] 1042. An Johanna Keßler


Wiedensahl 22. Oct. 1895.


Liebste Tante!

Die Zeit, die alt Urschel, ist für ihre Jahre recht rüstig. Hinterrucks immer geschäftig, huscht sie geräuschlos vorüber in ihren Filzschuhen, den Haarbesen in der Hand. Ich dreh mich um – siehda! – ein ganzer Winter voll Schnee, ein Frühling sammt Veilchen und Nachtigallen, ein Sommer mit seinen Gemüsekörben und Rosensträußen – es ist alles fein sauber beiseit gekehrt an den Ort, wo geschrieben steht: "Vergangenheit! Hier wird Schutt abgeladen!" – Schon wieder ein Jahr beinah ging hin, seit ich meine guten Bekannten in Frankfurt nicht persönlich begrüßen thät. So geht's![61]

Im Mai, oder so, zur Zeit einer Anregung von der liebenswürdigsten Seite, mußt ich und wollt ich eben nach Lüethorst, um nach bereits viel zu langer Pause meinen Onkel zu besuchen, der 89 Jahr alt geworden war. Ich fand ihn friedlich rauchend zwischen selbstoculirten Rosen. Appetit gut. Geistig fast genau so frisch, wie ich ihn jemals gekannt hatte. Ein ermunterndes Vorbild für Diejenigen, die ein übererkleckliches Alter für wünschenswerth halten. Was mich betrifft, wenn ich mir's recht überlege, möcht ich doch danken dafür. – Bald hernach wurde mir zugeweht, es würde gebaut und angestrichen bei Ihnen und die Englischmen kämen. – So fuhr ich denn mal nach Hattorf, nach Wolfenbüttel, nach Celle; zuletzt nach Hunteburg, wo ich den neuangelangten Großneffen nicht ohne Theilnahme etwas näher besichtigte. – Im übrigen kramt ich im Garten zwischen Blumen und Unkraut herum, durchwärmt von der Sonne, gar innig versimpelt, beständig umschwebt von der treuen Cigarrette hellblauem Gewölke. – Sie dagegen, nach Höherem strebend, sind, wie ich vernehme, mit der Letty weit droben in den Bergen gewesen, was Ihnen, der nichts fehlt, gewiß trefflich bekommen ist.

Leben Sie wohl, liebste Tante! Vielleicht deut ich nächstens an, daß ich Sie mal auf einige Tage besuchen möchte. Natürlich "Wind und Wetter vorbehalten", wie es auf den Fahrplänen der Dampfschiffe heißt.

Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Alle drumherum

Ihr getreuer

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 61-62.
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