1123. An Johanna Keßler

[93] 1123. An Johanna Keßler


Wiedensahl 10. April 97.


Liebste Tante!

Meinen Dank für Ihren liebenswürdigen Brief!

Die Geschicht mit dem wehen Hinterfüßchen ist, hoff ich, nicht auffallend schmerzhaft und hinderlich; sondern jeden Tag, ob's regnet oder schneit, seh ich Sie munter hinaus traben zu der Ginheimer Höh, um daselbst zu betrachten was wächst. Nicht sowohl das Fertigsein im Hochsommer, als vielmehr das anfängliche Wachsen und Werden von allerlei Kraut, wie dieses sich spaltet, wie jenes sich aufrollt, ist ja das, was am meisten erfreulich scheint. Man gräbt, man pflanzt, man stochert, man gießt, und wenn's gedeiht, genießt man den harmlosen Stolz, daß man auch dran geholfen, daß man's auch mit geschaffen hat.

Unser Frühling heuer war bis dato potzwunderlich. Blitz, Donner, Schnee, Regen und Sturm und den freundlichsten Sonnenschein warf er bunt durcheinander, und fast muß man befürchten, daß er uns noch weitere Poßen zu spielen gedenkt; vielleicht erst später, im Mai, so zwischen dem zehnten und fünfzehnten.

Von Ihrer neuen Hühnerwirthschaft versprech ich mir einen schönen Erfolg; à Ei 50 1123. An Johanna Keßler, aber Vergnügen für 'ne Mark bei jedem, besonders wenn Sie jedes persönlich in Empfang nehmen. Füttern Sie die guten Gackelchen nur nicht zu fett, denn sonst meinen sie gleich, daß nun das Legen nicht weiter mehr nöthig sei. Salat inzwischen wird für willkommen und dienlich gehalten.

Ja, und die Enten, die ergötzlichen Wackel- und Schnatterthierchen! Ob's ihnen wohl recht heimisch vorkommen wird in dem beschränkten Bezirk?[93]

Sie wollen Bäche und Teiche haben, wo sie allerlei fischen können, den Kopf nach unten, den Bürzel nach oben gekehrt. Doch wer weiß? Am End brüten's auch so und mehren sich fleißig, wenn sie von der verständigen Pflegetante vorsorglich behandelt werden. –

Ade! liebste Tante! Sein Sie mit all den Ihrigen recht herzlich gegrüßt; und wenn die Letty mal wieder weg ist in's Museum, so daß Sie Ruh und Fried haben im Haus, dann schreiben sie doch an Ihren

alten getreuen

Onkel Wilhelm.


Der Nanda bitt ich zu danken für ihren Brief, und ich würd ihn nächstens beantworten. Sie ist ja völlig wohlauf. Ich wünsche von Herzen, daß auch Philipps Befinden sich beßert.


1123. An Johanna Keßler: Faksimile Seite 1
1123. An Johanna Keßler: Faksimile Seite 1
1123. An Johanna Keßler: Faksimile Seite 2
1123. An Johanna Keßler: Faksimile Seite 2
Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 93-94.
Lizenz:

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon