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[108] 1150. An Johanna Keßler
Wiedensahl 28. Aug. 1897.
Liebste Tante!
Es freut mich, daß Sie mal wieder an mich gedacht, mir mal wieder über ihr Dasein und Befinden, wo ich so lange nichts von gehört hatte, eine eigenhändige schriftliche Urkunde geschickt haben. Derzufolge scheint es Ihnen ja gut zu gehn; was die Beweglichkeit betrifft sogar sehr gut. Man denkt fast an Nansen. Eben sind Sie weit hin nach einer Seite der Erde zwischen den Bergen und Gletschern gewesen und schon rüsten Sie sich, nach der andern Seite hin so mir nichts dir nichts über das wogende Meer zu fahren. Wär ich noch übermüthig wie Sie, dann ging ich natürlich gleich mit, um mal dies und das in London zu sehn, besonders was dort an den Wänden hängt. So aber blieb ich lieber daheim, denn die weite Welt da draußen ist mir unheimlich geworden; ich höre sie nur summen in der Zeitung und auch das nicht mal recht. Nun denk ich mir, Sie werden auf jenem vanity fair die Augen fein offen halten und später so liebenswürdig sein, mir hübsch deutlich zu erzählen, wie die Geschichte verlaufen ist.
Inzwischen will der Sommer sich drücken. Die Besichtigungsfreud am Wachsen und Werden ist für diesmal vorbei. Die muntern Singvögel, nachdem sie ihre Liebesangelegenheiten erledigt haben, sind kleinlaut geworden. Schon fällt hie und da ein gelbes Blatt von den Bäumen herab.
Meine Schwester ist noch im Harz, in Braunlage, hinter Lauterberg höher hinauf. Wann sie zurückkehrt weiß ich noch nicht.
Leben Sie wohl, liebste Tante!
Herzliche Grüße an Sie und die Ihrigen von Ihrem getreuen
Onkel Wilhelm.