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[110] 1154. An Johanna Keßler
Wiedensahl 26. Sept. 97.
Liebste Tante!
Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen. –
Wir hatten neulich gar leidenschaftliches Wetter; Regen, Sturm; der Wind rumorte um die Hütte herum; sauste wie närrisch in den Bäumen; legte die Bohnenstangen schief; riß die Rosen los. Da mußt ich oft dran denken, daß Sie wol grad unterwegs wären, auf stark schwankendem Schiff, wo es der armen Seele so eng wird im Leib. Und ähnlich scheint's Ihnen auch leider ergangen zu sein. Nun aber wandeln Sie wieder sicher in der guten Wiesenau. Mild leuchtet die herbstliche Sonne; der Weg zur Ginheimer Höh, oben um die Ecke, ist angenehm trocken; täglich spatzieren Sie hinaus, und die Letty mit Ihnen.
Bei uns, letzthin, ist kriegerischer Lärm gewesen. Natürlich bin ich ihm ausgewichen; bis nach Hunteburg, wo Martin der kleine und Ruth die kleinere dem Großonkel recht viel Vergnügen machten. Vorgestern kam ich zurück. Der wilde Wein hat inzwischen rothe Blätter bekommen. Die Staare sind bereits grau gekleidet für die Reise; sie besuchen noch mal ihre alten Wohnhäuschen; flöten zum Abschied, und dann, so bald es länger friert, sobald ihnen die Erdkruste zu hart wird, fahren sie mit dem Nachtzuge gen Süden.
Hoffentlich, liebste Tante, erhalten Sie gute Nachricht aus England.
Leben Sie wohl! Viele herzliche Grüße an Sie und die Ihrigen!
Ihr getr. Onkel
Wilhelm.