1157. An Grete Meyer

[111] 1157. An Grete Meyer


Wiedensahl 16. Oct. 1897.


Liebe Grete!

Ende voriger Woche hegt ich den lebhaften Wunsch, du möchtest schreiben. Was ich gewünscht hatte, traf richtig ein. Das bestätigt mal wieder den Glauben gewißer Mystiker an ein unsichtbares Gummibändel, das befreundete Seelen verknü[p]ft, und wären sie einander auch noch so fern.

Überrascht hat mich's, von dir zu hören, daß ihr Musikanten, die ihr hauptsächlich mit den Ohren seht und in Tönen denkt, euch doch, trotz[111] dem süßen Dusel, an nüchternen Definitionen versucht. So sag mir denn bloß mal klipp und klar auf deutsch, was Melodie bedeutet.

Und turnen thust du; das ist schön. Neulich, in Münster, wollten sich zwei angenehme Jungfräulein ihrer armen Verwandten, der Affen, schämen. Jetzt wirst du bald stolz auf sie sein, denn du wirst finden, daß sie im Punkt der Gelenkigkeit viel vornehmer sind, als wir andern. Ja, und was die Moral und die Einsicht anbelangt, warum sollten Affen, Maikäfer, Kohl und Rüben es nicht pöhapöh auch noch mal weiter bringen, bis sie uns einholen, bis wir sämmtlich, als vollendete Schlauberger und Tugendprotzen, auf der nämlichen Höhe stehn – auf deinem "andern Stern" vielleicht, den die Sentimentalen unter den Rationalisten schon lange im Auge haben; dort, wo wir vermittelst intellektueller X-strahlen das innerste Wesen der Dinge durchleuchten. Oder aber, der Intellekt, weil überhaupt untauglich für Geschichten, wo kein Ende an sitzt, wird gänzlich abgemeiert, so daß die unvernünftige Erkenntniß zuletzt alles in allem ist. Inzwischen, liebs Gredel, klimpern wir uns was zurecht, so oft's uns Vergnügen macht, wobei unser Motto, das weißt du ja wohl, stets heißt: Sozusagen! –

Meinen Dank für die nüdlichen Photographien nach den nüdlichen Kindern! Daß eins drauf am nüdlichsten ist, da kann ich nichts für.

Lebe wohl! Tausend herzliche Grüße von Tante und deinem getreuen

Onkel Wilhelm,


auch, bitte, an Anna.


Der Neffe Hermann war netterweise 8 Tage bei uns. Gestern früh ist er wieder fort. –

Unsere "Neue", alt 35, sieht aus wie 50; ist aber brav, gutwillig und culinarisch genugsam erfahren. Demnach hoffen wir das beste. –

Seit es kalt geworden, eßen wir hinten im Stübchen; das Vorderdöntzchen dient als gewöhnliches Wohngelaß; abends auch für mich. Wird's mir zu heiß drin, dann geh ich in die "Sommerfrische" draußen in der "Halle", um daselbst, die Zigarette im Maul, hin und her zu spatzieren zwischen der Küchenthür und der sommerlichen Eßecke, in der jetzt Oleander und Astern stehn.

Hast du Topfblümchen im Zimmer?

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 111-112.
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