1262. An Grete Meyer

[160] 1262. An Grete Meyer


Mechtshausen Sonntag 25. März 1900.


Liebe Grete!

Ich bin augenblicklich Waisenknabe, so zu sagen. Dies nehme ich zum willkommenen Vorwand, schon so bald einen Brief zu beantworten, der mir erst kürzlich von einer angenehmen Freundin geschrieben wurde.

Nämlich Tante, Else, Otto sind gestern früh um zehn über Seesen, Kreiensen (wo sie die Hattorfer treffen wollten) zur Familienversammlung nach Hannover gefahren. Otto und Else denken morgen nachmittag wieder hier zu sein, während Tante mit Sophie Sunder erst nach Barnstorf reist und von da über Verden zurück kommen will. Nachts schläft Frau Nachbarin Borchers bei den Kindern, die puppenlustig sind trotz der Abwesenheit ihrer hohen Verwandten.

Auf dem Hofe war Herr Kleimann (paßender Name für einen Maurer) seit mehreren Tagen beschäftigt. Aus dem Hühnerstell hat er die lange Kuhkrippe entfernt, ebenso die Treppe. Die Thür nach der Scheundiele ist[160] vermauert. An diese Innenwand, weil sie die wärmste ist, kommt der engere, nächtliche Hühnersitz. Das Auslaufloch geht künftig nicht nach dem Hof, sondern nach dem Baumgarten zu, von dem ein Stück mit Draht umgeben wird. Eine nicht üble Veränderung, schon im Hinblick auf Reinlichkeit.

Unser Wetter hat sich nicht eingeschmeichelt letzther. Nach ein paar hoffnungsvollen Frühlingstagen kam Schnee und Schmudder. Heut allerdings scheint bei Ostwind die Sonne, nur hats steif gefroren übernacht. Aber im Garten haben Herr Bieling und der alte Herr Probst doch tüchtig gewurzelt. Erstlich mal haben sie für die aus Erfurt zu erwartenden Bäume etwa zwanzig große tiefe Löcher gegraben und mit Komposterde gefüllt und dann die Johannisbeerbüsche umgepflanzt und dann sämmtliche Hecken ausgerodet. Ungefähr in vierzehn Tagen, hoffen wir, ist der ganze Garten mit Draht umhegt. Da werden denn im Winter die Hasen recht verlegen und ärgerlich sein, daß sie nicht mehr am Kohl knabbern können, wie bisher.

Die Knospen sind noch schüchtern, die Spatzen nicht. Sie bauen und kleckern. Auch die Staare plappern und flöten. Die zurück gekehrten Schaaren der Finken und Hänflinge haben sich noch nicht getrennt; sie quinkeliren bunt durcheinander und warten auf belaubtes Gebüsch, darin zu bauen und ihre Familie zu begründen.

- Du schwärmst für Geistesfreiheit. Ich auch. Wenn wir man bloß wüßten, wo sie gleich zu kriegen wäre. Gesetzt auch den Fall, die andern Leute, die gleichermaßen die Eitelkeit ihrer Meinung haben, ließen uns ruhig zufrieden, wenn wir sagten, was uns beliebt. Ist nicht unser Denken in jedem Augenblick, den wir Gegenwart nennen, ein Produkt der Vergangenheit, in dem unsere eigene Geistesarbeit nur mitzählt als ein klein winziger Faktor? Hat nicht zudem unser Hirn die Eigenheit, daß es uns zwingt, in Formen zu denken, die mit den Dingen an sich nichts zu thun haben? Das hochfliegende Wort Freiheit bedeutet hienieden, förcht ich, immer weniger, je mehr mans sich ansieht. Vielleicht, um es neckisch auszudrücken, waren wir frei vor Raum und Zeit, vielleicht werden wirs wieder nach Raum und Zeit. Bis dahin hab ich mir vorgenommen, hübsch geduldig und bescheiden zu sein.

Leb wohl, meine liebe Grete! Stets dein getreuer Onkel

Wilhelm.


Zu Mittag heute gabs gebratene Fleischklöße und Kartoffelbrei und hinterher weißen Pudding mit rother Tunke. Und alles wirklich sehr lobenswerth. Demnach bin ich doch nicht so verlaßen, wie ich vorher gefürchtet hatte.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 160-161.
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