1324. An Grete Meyer

[183] 1324. An Grete Meyer


Mechtshausen 18. Dec. 1901.


Liebe Grete!

Also in all dem Drang und Zwang und Klang deiner ersprießlichen Thätigkeit willst du doch das Gleichgewicht der Pflichten gegen dich selbst im Auge behalten. Das freut mich zu hören. Ein junges Mädchen, das hübsch und verständig ist, hat streng darauf zu sehn, daß die Schönheit von der Arbeit nicht zu sehr überwuchert wird, damit nicht eines Morgens das Spieglein an der Wand sagt: freilein, säi hewwet awerst höllsch verspiält.

Uns hier geht es zurzeit recht gut. Die Kinder husten fast gar nicht mehr. Martin studiert fleißig mit Erfolg; Ruth, bei der Gelegenheit, strebt gleichfalls nach höherer Bildung. Anneliese ist fröhlicher Laune, ernährt sich redlich und sieht schon genauer zu, was in der Welt paßirt: Sie macht das Schneuzen in's Sacktuch nach, und wenn auf dem Tisch vor ihr das kleinste Krümchen liegt, gleich entdeckt sie's und tippt mit dem Fingerchen drauf.

Einige Betrübniß erregt es, das die Hühner noch immer nicht legen wollen; nur einer von den älteren Putern thut's hin und wieder einmal; neulich im Garten mit Nachdruck sogar. "Ich konnte es ordentlich pucken hören", sagte Martin, der bei dem Fall zugegen war.

Seit ein paar Tagen herrscht das sonnigste Winterwetter, so daß die Wäsche zum großen Theil draus auf der Leine hängt. – Heut früh hatten wir 9° Kälte.

Otto, im Hinblick auf den kommenden Frühling, hat Nistkasten aufgehängt; 5 für Meisen, 3 für Staare an die Bäume, 2 für Rothschwänzchen oder Fliegenschnäpper an die Scheune.

Futternäpfchen für die Vöglein sind gleichfalls angebracht, nämlich Blumenuntersätze, gefüllt mit einem delikaten Guß von Talg und Sämereien. Dreimal des Tags kommen die Meisen zu Gast. Finden sie in der Pastete ein größers Korn, dann fliegen sie damit auf einen Ast beiseit und halten es mit dem Fuß, um es beßer verhacken zu können.

Leb wohl, liebe Grete! Ich wünsche Euch Allen recht fröhliche Feiertage.

Stets dein getr. Onkel

Wilhelm.


N.b. Bei den zwei von dir erwähnten Brüdern war vermuthlich Atavismus im Spiel. Söhne, die ihren Vätern nicht gleichen, sind ja auch häufig genug.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 183.
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