621. An Hermann Levi

[256] 621. An Hermann Levi


Wiedensahl 17. Oct. 84.


Lieber Levi!

Mit bestem Dank gebe ich Dir hiermit das Buch zurück. Also wär ich denn auch einmal bei einem dieser genialen Schnapswirthe der Neuzeit gewesen, wo die Leute, denen es daheim nicht wohl ist, einkehren, aber nicht zur Erholung und Stärkung, sondern um sich zu erhitzen und dann nach Haus zu gehen und Alles kurz und klein zu schlagen.

Diese aufregenden Träume, durchwirkt mit der überzeugendsten Alltäglichkeit haben etwas diabolisch Anziehendes. Am besten »gefällt« mir dieser Swidriquailow. Wie der sich berechtigt hält, rücksichtslos und unverschämt seine geile Persönlichkeit von der gemeinsamen Tiefe loszuschälen; der Humor, womit er die so oftmals unterschätzte Macht der Toten abzulehnen sucht; und wie ihm dann, als das Hauptgeschäft mißglückt, der schnöde Mammon zu wohlthätigen Zwecken aus den erschlafften Händen rinnt, und wie zuletzt dies aufgeblähte Individuum leichthin zerplatzt – das Alles – (besonders wirkungsvoll an seinem Orte erscheint der Traum vom Mädchen im Sarg!) – das Alles ist so fix und fertig wie ein Kunstwerk. – Nicht so der Titelheld mit seiner Sonja, welch' letztere sich in christlicher Hinsicht eine gewiße Achtung erschwindeln möchte. Nicht der leiseste Versuch auf redliche Weise sein Brot zu verdienen! Bekennen, geben, leiden, lieben, – vortreffliche Verben! Das Evangelium blitzt mal so herein, die Bibel wird sogar am Schluß ausdrücklich hervorgeholt. Da aber ein gewißes Zeitwort, welches die Anerkennung und Aneignung einer gewißen That ausdrückt, bis dato gänzlich vermieden wurde, so kann man nicht umhin, betreffs der in Aussicht gestellten »Erneuerung« höchst ängstliche Zweifel zu hegen. Als nothwendige Produkte des Zeitgeistes haben übrigens diese Poeten einen gewißen Werth.

Soeben bringt der Postbote den ätherischen Hut. Freudig setz' ich ihn auf, er paßt; ehrfurchtsvoll nehm ich ihn ab: »Dem Geber Gruß und Dank!«

Und nun lebe wohl, herzliebster Musikant! Und vergiß nicht, daß ein paar gute Worte in geschriebener Schrift bis auf weiteres noch wohl zu lesen imstande ist

Dein Dich liebender W.B.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 256-257.
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