|
[352] 869. An Nanda Keßler
Wiedensahl 13. Mai 92.
Liebe Nanda!
Ein netts Brieflein hast mir gereimt. – Vielleicht läßt unser goldiger Schmetterling, der am End wohl nicht ganz so schlimm ist, wie er manchmal zu scheinen beliebt, sich doch noch ein ideales Fädchen an's zierliche Beinchen binden, woran man ihn ein ganz klein wenig halten könnte, wenn er gar zu unstet sehnsüchtig herumflattert in Wind und Regen, die die Farbe beschädigen. –
Zeichnen, das wird schon wahr sein, will viel geübt werden, bis man damit leidlich was sagen kann. Die Muttersprache jedoch hat man von frühauf hübsch plappern gelernt (und wie!), drum wird man auch bald was recht hübsches damit dichten lernen. Nur muß man sich umschaun, besonders in der Näh, und sich innerlich sammeln. Alle Dinge, die größten und kleinsten, stehen ja da, bräutlich geschmückt, und erwarten den Menschengeist, daß er sich mit ihnen verbinde; und so kann man wohl sagen: Wer eine hübsche Blume innig betrachtet und ihr Bild heimführt in das Kämmerlein der Seele, der darf sich nicht wundern, wenn die Folge davon ein Gedicht ist –
Doch ich sehe, du nickst bereits. Oh, diese Nanda!
Hugos und Nellys Photographien stehen nun nebeneinander. Täglich zwei Mal muß ich an ihnen vorüber gehn, morgens und abends. – Da Du Nichts von Husten erwähnst, nehm ich an, daß der Abscheuliche weg ist. Auch von Hattorf (meine Schwester ist dort, seit ich zurück bin) erhielt ich günstige Nachricht. Bei uns hier freilich läßt der hartnäckige Ostwind nicht nach, trotz beständigen Sonnenscheins, uns empfindlich zu kneifen. Die Bäume blühen nur schüchtern. Kein Maikäfer (und es werden grade dieses Jahr ihrer viele zu Besuch erwartet) ist bis jetzt aus der Erde gekrochen. Na, diese gefräßigen Bonvivants mögen unserthalben nur bleiben, wo sie sind! Aber man möchte doch auch hier ein paar gemüthliche Tage mit dem Frühling verleben, der schon so bald wieder abreist.
Herzliche Grüße an Alle,
besonders an Ferdinande,
vom
alten nüdlichen, gemüthlichen, friedlichen
Onkel Wilhelm