872. An Johanna Keßler

[360] 872. An Johanna Keßler


Wiedensahl 9. Juni 92


Liebe Tante!

Zu Pfingsten kehrte meine Schwester aus Hattorf zurück mit guter Nachricht; der Diphteritisfall um Ostern ist vereinzelt geblieben bis jetzt. Auch war unser Brautpaar hier zum Fest, Otto und Else. Der Neffe Adolf aus Norden konnte leider nicht kommen; war kurz vorher einberufen zu achtwöchentlicher Übung und sitzt noch jetzt auf der Lockstedter Haide in Holstein mit einer gequetschten Hand. – Nächster Tags will meine Schwester nach Celle und Schwerin. Dann bin ich wieder allein.

Unser Wetter war wundervoll sonnig. Hab gegoßen und gejätet im Garten, und wurd's mir zu heiß und hatt ich genug Sonne eingesogen, was aber gut thut, dann zog ich mich auf die stets kühle Hausflur zurück, rauchend, schreibend, zeichnend, lesend; nicht ohne ein lebhaftes Gefühl der für mich tauglichen Behaglichkeit.

Nur etwas beunruhigt war ich letzther wegen meiner sieben Familien; sechs oben in den Bäumen, eine unten in der Hecke; Staare und Grasmücken. – Die älteren Staarkinder flogen aus, schräkelten aber noch futterbedürftig in der Nähe herum, während die Nestquackelchen (große Kerle mit angehenden Baßstimmen) noch immer aus den heimathlichen Kästchen heraus guckten, wo sie, als die nunmehr Einzigen, sich breit machten und gehörig verhätscheln ließen. Auch die Grasmückchen entschlüpften dem Neste. Nun hatten die 14 Alten was zu thun; hier saß ein Junges und dort eins. Und dann die Angst von wegen der Malefizkatzen. Ein halbes Dutzend lauert und schleicht bei Tag und bei Nacht im Garten herum. Oft schon ganz früh weckte mich das herzbewegliche Geschrei der sorglichen Eltern. Als ich nun gar den alten schwarzen Kater im Akazienbaum dicht unter einem Kästchen überraschte, ging ich schleunig daran, um den Stamm ein Bündel Dornen zu binden. Ich nahm Stachelrosen; und da saß ich denn später in Mußestunden und bohrte und zwickte die Dornen aus den Fingern nach der Methode, die Sie damals beim Hugochen anwandten, als er den Splitter erwischt. – Jetzt ist's still geworden um's Haus herum; die jungen Vöglein sind von den Alten in die Welt eingeführt, in Wiesen und Wald. Bald aber werden sie zurück kehren zur zweiten Brut.

Wie sieht's denn aus auf der Ginheimer Höh? Wie gerathen die Japanischen Klettergurken? (Ich hab auch vier hoffnungsvolle.) Und haben's die umgepflanzten Obstbäum bloß beim Blühen bewenden laßen, oder sitzen Früchte daran? War der Weg zuweilen hübsch heiß dahin?

Leben Sie wohl, liebe Tante! und grüßen 'S mir die Letty und Alle von

Ihrem ergebensten

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 360.
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