Fünftes Kapitel.

[49] Fährt fort, von dem Unfalle unsers Ritters zu erzählen.


Da er sich nun gar nicht bewegen konnte, so verfiel er endlich auf sein gewöhnliches Mittel, nämlich an irgendeine Stelle in seinen Büchern zu denken. Seine Torheit brachte ihm eine vom Balduin ins Gedächtnis und vom Marques von Mantua, als Carlot den Balduin verwundet im Gebirge ließ: diese Geschichte, welche die Kinder kennen, die jungen Leute wissen, die Alten lobpreisen und außerdem glauben und die bei alledem nicht wahrhafter ist, als es die Wunderwerke Mahomeds sind. Diese also erschien ihm so, daß sie für seine Umstände, wie dazu gegossen, passe; er wälzte sich daher mit dem Ausdrucke eines großen Schmerzes auf der Erde herum und sagte mit schwacher Stimme alles, was der verwundete Ritter soll gesprochen haben:


Wo verweilst du, meine Herrin,

Daß dich jammert nicht mein Schmerz?

Wohl kennst du ihn nicht, Gebietrin,

Oder hast die Treu verscherzt.


So fuhr er in der Romanze bis zu den Versen fort:
[50]

Edler Marques du von Mantua,

Oheim mir, verwandtes Herz!


Es traf sich, daß bei diesen Versen ein Bauer aus seinem Dorfe und sein Nachbar vorüberging, der einen Sack Korn zur Mühle gebracht hatte. Als dieser einen Mann auf dem Boden liegen sah, ging er zu ihm hin und fragte ihn, wer er sei und was ihm fehle, daß er sich so überaus betrübt anstelle. Don Quixote glaubte fest, daß dieser der Marques von Mantua, sein Oheim, sei, und antwortete also nichts weiteres, als daß er in der Romanze fortfuhr, in der er sein Unglück und die Liebe des Kaisersohnes zu seinem Gemahl vortrug, ganz so, wie es die Romanze besingt. Der Bauer stand verwundert da, als er dergleichen Unsinn hörte; er machte das Visier los, das von den Schlägen in Stücke gegangen war, und reinigte ihm dann das Gesicht, das voll Staub lag. Er hatte ihn kaum gesäubert, als er ihn erkannte und ausrief: »Ei Herr Quixada!« – dies also mußte sein Name sein, als er bei Verstande war und sich aus einem friedliebenden Edelmanne noch nicht in einen irrenden Ritter verwandelt hatte – »Wer hat Euer Gnaden denn so zugerichtet?« Jener aber fuhr immer fort, auf alle Fragen mit der Romanze zu antworten.

Da dies der gute Mann sah, machte er ihm, so gut er konnte, Brust- und Rückenharnisch los, um nachzusehen, ob er verwundet sei, aber er fand weder Blut noch eine Verletzung. Er bestrebte sich, ihn vom Boden aufzuheben, und mit vieler Mühe brachte er ihn auf seinen Esel, weil er dies für die bequemere Art von Reiten hielt. Die Waffen suchte er bis auf die Stücke der Lanze zusammen und band sie auf den Rozinante, den er beim Zügel faßte, seinen Esel aber an einem Stricke führte und so den Weg nach seinem Dorfe antrat, sehr nachdenklich über den Unsinn, den er Don Quixote sagen hörte. Tiefsinniger noch war Don Quixote, der sich, zerschlagen und gequetscht, kaum auf dem Lasttiere halten konnte und dann und wann einige Seufzer ausstieß, die so herzbrechend waren, daß der Bauer dadurch von neuem bewogen wurde, ihn zu fragen, was ihm fehle. Es schien, daß der Satan ihm alle Geschichten ins Gedächtnis brachte, die sich auf seinen Zustand paßten, denn nun vergaß er den Balduin und erinnerte sich des Mohren Abindarraez, den der Kommandant von Antequera, Rodrigo de Narvaez, fing und als Gefangenen nach seiner Festung führte. Als ihn der Bauer also von neuem fragte, was ihm sei und wo es ihm weh tue, antwortete er ihm mit den nämlichen Redensarten, die der gefangene Abencerraje gegen Rodrigo de Narvaez führte, gerade so, wie er die Geschichte in der »Diana« des Georg de Montemayor gelesen hatte, wo sie erzählt wird; er gebrauchte sie so zu seinem Besten, daß der Bauer des Teufels werden wollte, ein solches Gewebe von Albernheiten anhören zu müssen. Er merkte aber daraus, daß sein Nachbar närrisch sei, und eilte behende nach dem Dorfe zu, um nur des Verdrusses loszuwerden, den ihm Don Quixote mit seiner weitläuftigen Geschichte erregte. Am Schluß derselben sagte dieser: »Wissen demnach mein gnädiger Herr Don Rodrigo de Narvaez, daß diese oft erwähnte schöne Xarifa zur Stund die süße Dulcinea von Toboso genannt wird, um derentwillen ich tue, getan und tun will die berühmtesten Rittertaten, die die Welt je gesehen, sieht und sehen wird!« Der Bauer antwortete hierauf: »Sehen doch nur der gnädige Herr, daß ich, bei meiner armen Seele! nicht Don Rodrigo de Narvaez bin, auch nicht der Marques von Mantua, sondern Pedro Alonzo, Euer Nachbar, so seid Ihr auch nicht Balduin oder Abindarraez, sondern der ehrenfeste Herr Quixada.« – »Ich weiß, wer ich bin«, antwortete Don Quixote, »und weiß auch, daß ich nicht nur, was ich sagte, sein kann, sondern auch alle zwölf Pairs von Frankreich und noch dazu alle neun Helden: denn alle ihre Taten, die sie alle zusammen und jeder einzeln für sich getan haben, vergleichen sich nicht den meinigen.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen kamen sie gegen Abend an das Dorf, aber der Bauer wartete,[51] bis es finster würde, damit man nicht den zerschlagenen Edlen als einen so üblen Ritter sehen möchte. Als ihm nun die Zeit günstig deuchte, zog er in das Dorf hinein und nach Don Quixotes Wohnung, wo alles in Verwirrung war. Der Pfarrer und der Barbier des Ortes, die Don Quixotes gute Freunde waren, befanden sich dort, und die Haushälterin sagte eben mit lauter Stimme: »Was sagt nun Eure Ehrwürden, Herr Lizentiat Pedro Perez« – so hieß der Pfarrer –, »zu meines Herrn Unglück? Seit sechs Tagen ist er nicht zu sehen, nicht sein Pferd, nicht die Lanze und Schild, nicht die Rüstung! Ich will gleich des Todes sein, wenn es mir nicht schwant, und gewiß wird es auch ebenso richtig sein, wie wir geboren werden, um zu sterben, daß ihm seine verfluchten Ritterbücher, die er immer las, den Verstand verrückt haben! Ich erinnere mich jetzt, daß ich ihn oft habe sagen hören, wenn er für sich sprach, daß er irrender Ritter werden möchte und ausziehen, um in der ganzen Welt Abenteuer aufzusuchen. Hole doch Satan und Barrabas alle dergleichen Bücher! denn sie haben den feinsten Kopf in der ganzen la Mancha um seinen Verstand gebracht.«

Die Nichte sagte das nämliche und sogar noch mehr: »Wißt, Meister Nicolas« – denn so hieß der Barbier –, »daß mein Herr Oheim, wenn er manchmal in diesen unmenschlichen Unglücksbüchern zwei Nächte und zwei Tage las, am Ende das Buch wegwarf, den Degen nahm und auf die Mauer losschlug. Wenn er dann ermüdet war, sagte er, er habe vier Riesen, so groß wie die Türme, umgebracht, der Schweiß, den er von der Anstrengung vergoß, behauptete er, sei Blut aus den Wunden, die er in der Schlacht empfangen habe; dann trank er schnell einen großen Becher kaltes Wasser aus und war gesund und ruhig, wobei er sagte, daß das Wasser ein köstliches Getränk sei, das ihm der weise Halsknief, ein großer Zauberer und sein Freund, gebracht habe. Ich aber habe an allem die meiste Schuld, daß ich Euch nicht von den Torheiten meines Herrn Oheims unterrichtet habe, damit wir vorher dazu getan hätten, ehe er das geworden ist, was er jetzt ist, so hätte man all die vielen heidnischen Bücher verbrannt – deren er so viele hat –, die es wahrhaftig ebensowohl als Ketzer verdienen.«

»Das sag ich auch«, sagte der Pfarrer, »und wahrlich! morgen soll die Sonne nicht untergehen, ehe wir sie verurteilt und zum Feuer verdammt haben, damit sie nicht jemand anders verführen, sie zu lesen, und es ihm dann so ergeht, wie es meinem guten Freunde ergangen sein muß.«

Alles dieses hörten der Bauer und Don Quixote mit an, und der Bauer begriff daraus völlig die Krankheit seines Nachbars; er fing daher an mit lauter Stimme zu rufen: »Man geruhe dem Herrn Balduin aufzumachen und dem Herrn Marques von Mantua, der schwer verwundet ankömmt, ebenso dem Herrn Mohren Abindarraez, den der Kommandant von Antequera, der tapfre Rodrigo de Narvaez, gefangenführt.«

Bei diesen Worten liefen sie alle hinaus, und wie nun die beiden ihren Freund, die andern ihren Herrn und Oheim erkannten, der noch nicht von seinem Tiere abgestiegen war, weil er nicht konnte, wollten ihn alle umarmen. Er aber sagte: »Bleibt alle zurück; denn ich komme durch Schuld meines Pferdes schwer verwundet an; bringt mich zu Bett und ruft, wenn es möglich ist, die weise Urganda, daß sie meine Wunden heile und untersuche.«

»Nun da haben wir's ja«, sagte die Haushälterin, »mein Herz sagt es mir wohl, wo meinen Herrn der Schuh drückte, wir wollen Euch mit Gottes Hülfe, gnädiger Herr, selber schon heilen, ohne daß die Urganda dazukomme. Verflucht und noch hundertmal und noch tausendmal verflucht mögen die Ritterbücher sein, die Euer Gnaden so zugerichtet haben.«

Sie brachten ihn sogleich zu Bette, um seine Wunden zu untersuchen, da sie aber keine fanden, sagte er, daß er ganz zerquetscht sei, weil er mit seinem Rosse Rozinante einen schweren Fall getan, in Bekämpfung von zehn Waldbauern, den ungeheuersten und wildesten, die man wohl auf einem großen[52] Teile der Erde finden könne. »Haha!« sagte der Pfarrer, »müssen die Waldbauern an den Tanz? Nun, bei meiner armen Seele, morgen vor Abend sollt ihr alle verbrannt sein.«

Sie taten tausend Fragen an Don Quixote, aber er antwortete auf alle nichts weiter, als man möchte ihm zu essen geben und ihn schlafen lassen, welches ihm das nötigste sei. Dies geschah auch, und der Pfarrer erkundigte sich bei dem Bauer umständlicher, auf was Art er Don Quixote gefunden habe. Dieser erzählte alle Tollheiten, die jener auf der Erde liegend und unterwegs gesprochen habe, welches den Lizentiaten in seinem Vorsatze bestärkte, der am folgenden Tage sogleich seinen Freund, Meister Nicolas, den Barbier, abrief, mit dem er sich nach der Wohnung Don Quixotes begab.

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 1, S. 49-53.
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