Zweites Kapitel.

[375] Enthält die anmutige Geschichte des Maultiertreibers, nebst andern seltsamen Begebenheiten, die sich in der Schenke zutrugen.


Schiffer nenn ich mich der Liebe,

Fahr auf ihren tiefen Fluten,

Ohne Hoffnung zu erreichen

Eines Hafens sichre Buchten.


Ein Gestirn lenkt meine Wege,

Das von fern mir zeigt die Spuren,

Schöner und von hellerm Glanze,

Als je Palinur erkundet.


Nicht weiß ich, wohin es leitet,

In Verwirrung tief versunken,

Schaut die Seele dies nur brünstig,

Darauf ruhend ohne Ruhe.
[376]

Sprödigkeit, zu weit getrieben,

Tugend, wie sonst nie gefunden,

Sind die Wolken, die sehnsücht'gen

Blicken oftmals es verdunkeln.


Klar anleuchtendes Gestirne,

Läutern muß mich dein Gefunkel,

Und mein Tod muß mir erscheinen,

Wie du völlig mir entschwunden.


Als der Singende bis hierher gekommen war, fiel es Dorothea ein, daß es schade sei, wenn Clara eine so schöne Stimme nicht hören sollte, sie rüttelte sie also von einer Seite zur andern, um sie zu ermuntern, und sagte: »Vergib mir, mein Kind, daß ich dich aufwecke, ich tue es nur, damit du die lieblichste Stimme vernehmest, die du vielleicht zeit deines Lebens nicht gehört hast.«

Clara war noch halb im Traume und hörte zuerst nicht, was ihr Dorothea sagte, sie fragte sie daher, und jene wiederholte ihre Worte, worauf Clara aufmerksam wurde; aber kaum hatte sie zwei Verse vernommen, von dem Sänger vorgetragen, als sie ein so heftiges Zittern befiel, als wenn sie an einem schweren Fieber darniederläge; sie umarmte Dorotheen heftig und sagte: »Ach liebste, teuerste Señora! Warum hast du mich doch aufgeweckt? Das größte Glück, welches mir begegnen könnte, wäre, Augen und Ohren dicht verschlossen zu haben, um diesen unglücklichen Sänger weder zu sehen noch zu hören.«

»Was sagst du da, mein Kind? Bedenke, was du sprichst, denn der da singt, ist ein Maultierbursche, wie man sagt.«

»Nein«, antwortete Clara, »er ist ein Herr über eine Herrschaft, ja über meine Seele, die er so beherrscht, daß, wenn er sie nicht läßt, sie ihn ewig nicht verlassen wird.«

Dorothea verwunderte sich über die sinnigen Reden des jungen Mädchens, weil sie ihr bei weitem verständiger vorkamen, als man von ihrem geringen Alter erwarten durfte, sie sagte daher: »Ihr sprecht auf eine solche Weise, Señora Clara, daß ich Euch nicht verstehen kann, erklärt Euch deutlicher und sagt mir, was meint Ihr mit Seele und Herrschaft, und wer ist dieser Sänger, dessen Stimme Euch so beunruhigt? Antwortet mir aber jetzt noch nicht, denn ich möchte über Euere Erzählung nicht gern das Vergnügen verlieren, welches mir dieser Gesang macht, denn es scheint, als wollte er jetzt mit neuen Versen und neuer Melodie wieder zu singen anfangen.«

»In Gottes Namen!« antwortete Clara und hielt sich beide Ohren zu, um nichts davon zu hören, worüber sich Dorothea von neuem verwunderte. Sie blieb aber auf den Gesang aufmerksam und vernahm nun folgende Worte:


O du mein süßes Hoffen,

Das fort sich reißt den steilen Pfad hinan,

Getrost! es bleibt dir offen,

Was du gesucht, geebnet dir die Bahn,

Erzittre nicht zu sehn

Den Tod auf jedem Schritte mit dir gehn.
[377]

Die Tränen nie erringen

Ruhmvolles Triumphieren, edlen Sieg,

Denn dem kann nichts gelingen,

Der nicht mit seinem Glücke wagt den Krieg,

Der hin und wider schwankt,

Indessen jeder Sinn an Trägheit krankt.


Daß Liebe ihr Ergötzen

Nur teurer will verkaufen, dünkt mir schön,

Denn nichts gleicht jenen Schätzen,

Die durch ihr holdes Licht geläutert gehn,

Auch ist der Spruch bekannt,

Wohlfeil Gekauftes achtet man für Tand.


Beständigkeit der Liebe

Unmögliches zu Möglichem wohl macht,

Drum folg ich meinem Triebe,

Zieht er mich gleich durch Klippen und durch Nacht,

Ich traue dem Entschluß,

Daß ich auf Erden Himmel finden muß.


Hier endigte der Gesang, und Claras Seufzer fingen von neuem an. Alles erregte in Dorothea den Wunsch, die Ursache dieses süßen Gesanges wie dieser trübseligen Klage zu erfahren; sie fragte sie also von neuem darum, was sie vorher habe sagen wollen. Clara drückte sich hierauf dicht an Dorothea, damit Luzinde nichts hören möchte, und hielt ihren Mund so dicht an Dorotheas Ohr, daß sie sicher sein konnte, daß jene von ihrem Gespräche nichts vernahm, worauf sie sagte: »Der dort singt, liebe Señora, ist der Sohn eines Ritters, aus dem Königreiche Aragon gebürtig, der Herr von zweien Herrschaften, der dem Hause meines Vaters in Madrid gerade gegenüber wohnt; zwar hielt mein Vater die Fenster seines Hauses im Winter mit Vorhängen und im Sommer mit Jalousien verdeckt, auch weiß ich nicht, wann oder auf welche Art dieser Ritter, der den Studien nachging, mich gesehen hat, ob in der Kirche oder anderswo, aber kurz, er verliebte sich in mich und gab mir dies aus den Fenstern seines Hauses zu verstehen, und zwar mit so vielen Zeichen und Tränen, daß ich gezwungen wurde, ihm zu glauben, ja ihn zu lieben, ehe ich noch wußte, daß er mich liebte. Unter anderen Zeichen, die er machte, fügte er auch oft seine eine Hand mit der anderen zusammen, wodurch er mir zu verstehen gab, daß er sich mit mir verheiraten wolle; hierüber war ich sehr vergnügt, da ich aber einsam und ohne Mutter lebe, so hatte ich niemanden, dem ich die Sache mitteilen konnte, ich erzeigte ihm also keine andere Gunst, als daß ich, wenn mein Vater und der seinige ausgegangen waren, den Vorhang oder die Jalousie ein wenig aufhob und mich ihm zeigte, worüber er sich so sehr freute, daß er sich nicht anders als ein Wahnsinniger gebärdete. Es kam nun die Zeit heran, in der mein Vater abreiste, was er erfuhr, aber nicht von mir, denn ich konnte es ihm niemals sagen. Er wurde, wie ich nachher hörte, vor Betrübnis krank, und also konnte ich an dem Tage, als wir abreisten, nicht, wenigstens mit den Augen, Abschied von ihm nehmen. Nachdem wir aber zwei Tagereisen gemacht hatten und eben in unserem Nachtlager einkehren wollten, sah ich ihn in einem Dorfe, das eine Tagereise von hier liegt, unter der Tür des Hauses, in der Tracht eines Maultiertreibers,[378] und zwar so natürlich, daß, wenn sein Bildnis nicht immer in meiner Seele lebte, ich ihn gewiß nicht erkannt hätte. Ich erkannte ihn, verwunderte und freute mich; er sah mich an, ohne daß es mein Vater bemerkte, vor dem er sich immer verbirgt, wenn er auf dem Wege und in den Herbergen je zuweilen an meiner Seite ist, und da ich nun weiß, wer er ist, und bedenke, daß er aus Liebe zu mir zu Fuß und so mühselig reist, bin ich so geängstigt, daß ich vor Bekümmernis sterben möchte, und wo er seine Füße hinsetzt, werfe ich meine Augen hin. Ich weiß nun nicht, was er will und wie er seinem Vater hat entlaufen können, der ihn außerordentlich liebt, weil er keinen andern Erben hat und weil er es in der Tat verdient, wie Ihr auch finden werdet, wenn Ihr ihn seht. So nimmt er auch alles, was er singt, aus seinem Kopfe, denn ich habe von ihm sagen hören, daß er sehr gelehrt und ein guter Poet ist; sooft ich ihn nur sehe oder singen höre, zittre ich und bin in der größten Angst, daß mein Vater ihn erkennen und hinter unsere Gesinnungen kommen möchte. Ich habe noch im Leben kein Wort mit ihm gesprochen, aber doch liebe ich ihn so sehr, daß ich ohne ihn nicht leben kann. Das ist, liebste Señora, alles, was ich Euch von diesem Sänger sagen kann, dessen Stimme Euch so sehr gefallen hat, und Ihr werdet nun wohl sehen, daß es kein Maultierbursche ist, wie Ihr glaubtet, sondern ein Herrscher über Seelen und Herrschaften, wie ich Euch erst gesagt habe.«

»Beruhigt Euch, Doña Clara«, sagte hierauf Dorothea, indem sie sie zu tausend Malen küßte; »ich sage, beruhigt Euch und erwartet in Geduld den Tag, denn ich hoffe, mit Gottes Hülfe, Euere Sache so zu führen, daß sie ein so glückliches Ende erreicht, als ein so guter Anfang verdient.«

»Ach, Señora!« sagte Doña Clara, »welch ein Ende kann ich erwarten, wenn sein Vater so vornehm und reich ist, daß ich es kaum verdiene, die Magd seines Sohnes, viel weniger seine Gemahlin zu sein? Mich aber ohne Wissen meines Vaters zu verheiraten, könnte ich um alles in der Welt nicht tun; ich wünschte nur, daß der junge Mensch umkehrte und mich verließe, denn vielleicht, wenn ich ihn nicht sehe und viele Meilen zwischen uns liegen, wird dieser Schmerz gelindert, den ich jetzt empfinde, ob ich freilich doch glaube, daß mir dieses Mittel nicht viel helfen wird. Ich weiß nicht, welcher Teufel es gemacht hat oder wo alle die Liebe in mir hergekommen ist, da ich so jung bin und er so jung ist, denn ich glaube, daß wir in einem Alter sind, und ich bin noch keine sechzehn Jahre alt, sondern werde es erst auf künftigen Michaelistag, wie mir mein Vater gesagt hat.«

Dorothea mußte lachen, da sie Doña Clara so wie ein Kind reden hörte, worauf sie sagte: »Wir wollen noch, Señora, die wenige Zeit über schlafen, die von der Nacht übrig ist, es wird Tag werden, und wir wollen ein Mittel finden, oder ich müßte sehr ungeschickt sein.«

Hierauf schliefen sie ein, und in der ganzen Schenke herrschte das größte Stillschweigen. Nur die Tochter der Wirtin und die Magd Maritorne schliefen nicht; diese, die das Übel kannten, an welchem Don Quixote krankte, und wußten, daß er draußen vor der Schenke zu Pferde und bewaffnet hielt, um zu wachen, nahmen sich vor, einen Spaß mit ihm zu treiben oder wenigstens die Zeit damit zu verkürzen, seinen Torheiten zuzuhören.

In der ganzen Schenke war kein Fenster, das auf das Feld hinausgegangen wäre, als eine Luke, zu welcher man das Stroh herauswarf. An diese Luke stellten sich die beiden Halbjungfrauen und sahen, wie Don Quixote zu Pferde saß, auf seine Stange gestützt, von Zeit zu Zeit schmerzliche und tiefe Seufzer ausstoßend, als wenn ihm mit jedem die Seele entweichen wollte; zugleich hörten sie, wie er mit sanfter, feierlicher und verliebter Stimme klagte: »O du meine Gebieterin Dulcinea von Toboso, Ausbund aller Schönheit, Blüte jedes Verstandes, Archiv alles Witzes, Niederlage jeder Tugend, Ideal aller Vollkommenheiten und alles Schönen und Edlen, das nur in der Welt ist! Was beginnt jetzt deine Hoheit? Wendest du vielleicht die Gedanken auf deinen gefangenen Ritter, der sich so großer Gefahren, bloß um dir zu[379] dienen, aus freier Willkür unterzogen hat? Gib du mir Nachricht von ihr, o du Leuchtende mit dem dreifachen Antlitze, vielleicht betrachtest du das ihrige jetzt mit Neid, indem sie durch eine Galerie ihres herrlichen Palastes wandelt oder sich mit dem Busen über einen Balkon hinauslehnt und erwägt, wie sie, ihrer Tugend und Hoheit unbeschadet, die Qual lindern möchte, die um ihretwillen mein zerrissenes Herz erduldet, welche Freude sie meiner Pein geben könnte, welche Ruhe meiner Sorge und, kurz, welches Leben meinem Tode und welche Belohnung meinen Diensten. Und du, Sonne, die du wohl schon eilige Anstalt machst anzuschirren, um den Morgen deine Rosse zu bringen und meine Gebieterin zu sehen, wenn du sie siehst, so bitte ich dich, grüße sie von meinetwegen! Wenn du sie aber siehst oder begrüßest, so hüte dich ja, ihr einen Kuß auf das Angesicht zu geben, denn ich werde eifersüchtiger auf dich sein, als du es nur jemals auf jene leichtfüßige Grausame warst, die dich so seufzen und laufen ließ in den thessalischen Ebenen oder an den Ufern des Peneus – denn ich erinnere mich jetzt gerade nicht, wo du damals liefest –, in Liebe und Eifer entbrannt.«

So weit war Don Quixote in seiner Trauerklage gekommen, als die Tochter der Wirtin ihn durch ein »St! St!« herbeirief und sagte: »Gnädiger Herr, wenn es Euch gefällig ist, so kommt doch hier heran.«

Auf diese Anrede wandte Don Quixote das Haupt und sah beim Scheine des Mondes, der in voller Klarheit glänzte, wie man ihn aus der Luke rufe, die ihm ein Fenster schien, und selbst mit vergoldetem Gitter, so wie es einem reichen Kastelle zukommt, wofür er die Schenke ansah, und sogleich stellte er sich in seiner törichten Einbildung vor, daß gerade wie das vorige Mal die schöne Jungfrau, die Tochter der Gebieterin im Kastell, von Liebe zu ihm besiegt, ihm Anträge mache, und in diesen Gedanken, um nicht für unhöflich und undankbar zu gelten, wandte er den Rozinante herum und näherte sich der Luke; und sowie er die beiden Mädchen gewahr wurde, sprach er: »Ich beklage Euch, schöne Dame, daß Ihr Eure verliebten Gedanken dahin wendet, wo Ihr niemals eine Erwiderung finden könnt, wie sie Euer hoher Wert und Eure Lieblichkeit verdienen, weshalb Ihr aber nicht diesen elenden irrenden Ritter beschuldigen müßt, dem es die Liebe unmöglich macht, seinen Willen auf eine andere zu richten als auf diejenige, die, sowie sie seine Augen erblickten, die unumschränkte Herrscherin seiner Seele wurde. Verzeiht mir, edle Dame, und begebt Euch in Euer Gemach zurück, wollet mir auch nicht öfter Eure Wünsche zu erkennen geben, damit ich mich nicht öfter als einen Undankbaren zu zeigen nötig habe; doch wenn die Liebe, die Ihr zu mir tragt, Euch irgend etwas anderes nennt, worin ich Euch Genüge leisten mag, wenn es nicht eben diese Liebe ist, so mögt Ihr es fordern, und ich schwöre Euch bei meiner abwesenden süßesten Feindin, Euch solches alsobald zu bewilligen, und wenn Ihr sogar eine Locke aus den Haaren der Medusa verlangt, die lauter Schlangen waren, oder selbst die Strahlen der Sonne, in einer Flasche eingesperrt.«

»Davon hat meine Dame nichts nötig«, sagte Maritorne hierauf.

»Aber was hat Eure Dame denn nötig, verständige Dueña?« fragte Don Quixote.

»Nur eine von Euren schönen Händen«, sagte Maritorne, »um an ihr die Liebe zu sättigen, die sie zu dieser Luke auf die gänzliche Gefahr ihrer Ehre geführt hat, denn wenn es ihr Herr Vater merkte, so würde er ihr zum wenigsten die Ohren abreißen.«

»Nun dieses möchte ich doch wohl schauen«, antwortete Don Quixote; »er möchte sich dessen ja enthalten, wenn er nicht das allerschrecklichste Ende nehmen wollte, welches ein Vater noch auf der Welt genommen hat, so die Hand an die zarten Glieder seiner verliebten Tochter gelegt zu haben.«

Maritorne glaubte, daß Don Quixote gewiß die verlangte Hand reichen würde, und da sie sich schon in Gedanken vorgenommen hatte, was sie tun wollte, ging sie vom Boden nach dem Stall hinunter, wo sie den Strick vom Esel des Sancho Pansa nahm und schnell zur Luke zurückkam, als sich Don Quixote[380] eben mit den Füßen auf den Sattel des Rozinante gestellt hatte, um das Gitterfenster zu erreichen, wo er meinte, daß sich die verwundete Jungfrau befand, und indem er die Hand hinreichte, sagte er: »Nehmt, Señora, diese Hand, oder richtiger zu sprechen, diese Geißel aller Bösewichter, nehmt diese Hand, sage ich, die noch kein Weib gefaßt hat, selbst jene nicht, der mein ganzer Körper eigentümlich zusteht; ich reiche sie Euch nicht, damit Ihr sie küßt, sondern daß Ihr das Gewebe ihrer Sehnen betrachten mögt, die Festigkeit der Muskeln, die Kräftigkeit und Stärke ihrer Adern, woraus Ihr alsdann abnehmen mögt, wie groß die Stärke des Armes sein müsse, dem diese Hand zugehört.«

»Das wollen wir gleich sehen«, sagte Maritorne, worauf sie in den Strick eine Schleife band, sie um die Knöchel der Hand warf und im Herabgehen von der Luke den Strick sehr fest an den Riegel der Tür heftete. Don Quixote, der die Rauheit des Strickes an seiner Hand fühlte, sagte: »Es scheint, meine Gnädige, daß Ihr die Hand mehr striegelt als streichelt, behandelt sie nicht so übel, denn sie kann nichts für das, was mein Wille gegen Euch verbricht, auch ist es nicht gut, daß Ihr an einem so kleinen Teile Eueren ganzen Zorn auslaßt; bedenkt, daß, wer edel liebt, sich nicht unedel rächt.«

Diese Rede des Don Quixote wurde aber von keinem mehr gehört, denn sowie ihn Maritorne festgebunden hatte, wollte sich diese und die andere halb tot lachen und ließen ihn auf solche Weise zurück, daß er sich unmöglich losmachen konnte. Er stand, wie gesagt, mit den Füßen auf Rozinante, den Arm nach der Luke hinaufgereckt und die Hand an dem Riegel der Tür festgebunden, in der größten Furcht und Sorge, daß sich Rozinante nach der einen oder der anderen Seite ein wenig rühren möchte, wo er dann gar am Arme aufgehängt wäre; er wagte es also nicht, irgend eine Bewegung zu machen, denn von der Geduld und Friedfertigkeit des Rozinante konnte er erwarten, daß er ein Jahrhundert stillstände, ohne sich zu rühren. Wie nun Don Quixote sah, daß er festgebunden war und sich die Damen entfernt hatten, verfiel er auf den Gedanken, daß alles dieses sich wieder, wie das vorige Mal, durch Bezauberung zutrage, als ihn in diesem nämlichen Kastell jener verzauberte Mohr von Eseltreiber zerprügelte; er verwünschte bei sich seinen geringen Verstand, da es ihn jenes Mal in diesem Kastell so übel geraten sei, er es dennoch zum zweiten Male unternommen habe, hineinzugehen, da es doch eine Regel bei den irrenden Rittern sei, daß, wenn sie einmal ein Abenteuer versucht und es nicht bestanden haben, dieses ein Zeichen ist, daß es nicht für sie, sondern für andere aufgehoben wird, deshalb sie es gar nicht nötig haben, es zum zweiten Male zu versuchen. Er zog indes immer an seinem Arme, um zu sehen, ob er ihn losmachen könnte, aber er war so gut befestigt, daß alle seine Versuche vergeblich waren. Er arbeitete aber mit der größten Behutsamkeit, um den Rozinante in keine Bewegung zu bringen, und so viele Mühe er sich auch gab, sich wieder in den Sattel zu setzen, war er doch gezwungen, auf den Füßen stehen zu bleiben oder sich die Hand abzureißen. Jetzt war es Zeit, sich das Schwert des Amadis zu wünschen, gegen welches keine Zauberei Gewalt hatte; jetzt war es Zeit, sein Schicksal zu verfluchen; jetzt war es Zeit, zu wehklagen über den Verlust, welchen die Welt erleiden müsse, während er dort festgezaubert sei, denn er zweifelte nicht, daß dies der Fall war; jetzt war es Zeit, sich von neuem seiner geliebten Dulcinea von Toboso zu erinnern; jetzt war es Zeit, seinen getreuen Stallmeister Sancho Pansa zu rufen, der im tiefsten Schlafe auf dem Sattel seines Esels ausgestreckt lag und in dieser Stunde sich um die Mutter nicht kümmerte, die ihn zur Welt geboren; jetzt rief er den weisen Lirgande oder Alquife an, daß sie ihm helfen möchten; jetzt flehte er seine gute Freundin Urganda um Beistand an; und kurz, der Morgen kam jetzt herauf, indem er so in Verzweiflung und Verwirrung war, daß er wie ein Stier brüllte, weil er nicht glaubte, daß sein Unfall mit dem Tage enden werde, sondern er hielt ihn für unvergänglich, weil er nämlich bezaubert sei; worin er noch dadurch bestätigt wurde, daß Rozinante sich wenig oder gar nicht bewegte, so daß er glaubte, er würde so, ohne zu essen, ohne zu trinken und zu schlafen, mit seinem Pferde stehenbleiben[381] müssen, bis dieser böse Einfluß der Gestirne wieder vorüber sei oder bis ein anderer noch größerer Zauberer ihn entzauberte; in welchem Glauben er sich aber dennoch sehr geirrt hatte, denn kaum fing es an aufzudämmern, als vier Menschen zu Pferde auf die Schenke zuritten, die sehr gut gekleidet waren und Musketen mit sich führten. Sie pochten an die Tür der Schenke, die noch verschlossen war, mit großer Gewalt; als Don Quixote dies gewahr wurde, der es noch nicht aufgegeben hatte, Schildwache zu sein, rief er mit lauter und trotziger Stimme: »Ritter oder Stallmeister, oder wer ihr sonst sein mögt, enthaltet euch, so an die Tür dieses Kastells zu schlagen, denn es ist hinlänglich deutlich, daß zu dieser Stunde die Bewohner drinnen schlafen oder nicht gewohnt sind, die Festung eher zu eröffnen, als bis die Sonne über den ganzen Erdboden verbreitet ist; darum entfernt euch und wartet, bis der Tag vollends anbricht, und dann wird man sehen, ob es dienlich sei oder nicht, euch aufzumachen.«

»Was, in 's Teufels Namen, für eine Festung oder Kastell ist denn das«, sagte der eine, »daß wir solche Zeremonien beobachten sollten? Wenn Ihr der Wirt seid, so laßt uns aufmachen, wir sind Reisende, die den Pferden nur etwas Hafer geben und dann weiterreiten werden: denn wir sind eilig.«

»Hab ich denn etwa, Ihr Ritter, das Ansehen eines Wirtes?« antwortete Don Quixote.

»Ich weiß viel, wovon Ihr das Ansehen habt«, antwortete jener, »aber das weiß ich, daß Ihr närrisch sprecht, wenn Ihr die Schenke ein Kastell nennt.«

»Es ist ein Kastell«, versetzte Don Quixote, »und eins der vorzüglichsten in dieser Provinz; es befinden sich Leute darin, die schon einen Szepter in der Hand und eine Krone auf dem Kopfe gehabt haben.«

»Besser wär's«, versetzte der Reisende, »sie hätten den Szepter im Kopfe und die Krone in der Hand gehabt; und wenn wir es genau betrachten, so wird eine Gesellschaft von Komödianten darin sein, die wohl, wie Ihr sagt, mit Szepter und Krone umzugehen pflegen: denn in solcher kleinen Schenke, in welcher es noch dazu so still wie in dieser zugeht, glaube ich nimmermehr, daß Leute wohnen, die des Szepters und der Krone würdig sind.«

»Ihr wißt wenig von der Welt«, erwiderte Don Quixote, »denn Ihr wißt nichts um Dinge, die sich in der irrenden Ritterschaft zuzutragen pflegen.«

Die anderen, die den Fragenden begleiteten, waren Don Quixotes Gespräch überdrüssig, deshalb pochten sie von neuem mit der größten Heftigkeit an, wodurch der Wirt erwachte, so wie alle übrigen, die in der Schenke waren; dieser stand daher auf, um zu sehen, wer da sei.

Es begab sich indes, daß eine von den Stuten, die mit den vier Anklopfenden gekommen war, zum Rozinante trat, um diesen zu beriechen, der noch immer melancholisch, tiefsinnig und mit niederhängenden Ohren dastand, ohne sich unter seinem aufgerichteten Herrn zu bewegen, und da dieser doch im Grunde Fleisch war, ob er gleich von Holz schien, so konnte er die Erwiderung nicht unterlassen, sondern er wandte sich um, um auch das zu beriechen, was ihn so höflich begrüßte, und sowie er sich kaum ein Unmerkliches rührte, fielen beide Füße des Don Quixote herunter, und indem er vom Sattel herunterrutschte, wäre er auf den Boden gefallen, wenn er nicht am Arme gehangen hätte; welches ihm so großen Schmerz verursachte, daß er meinte, die Hand sei ihm entweder abgebrochen oder der Arm ausgerissen, denn er kam dem Boden so nahe, daß er mit den äußersten Spitzen der Füße die Erde küßte, was eben das schlimmste war, denn da er fühlte, wie wenig ihm abginge, um die Beine auf die Erde zu stellen, so quälte er sich und reckte sich aus, soviel er vermochte, um den Boden zu erreichen; so daß es ihm wie denen ging, die sich auf der Leiter einer Folter befinden, welche stehen und auch nicht stehen, so daß sie selbst ihre Schmerzen vermehren, indem sie sich beeifern, sich noch mehr auszurecken, weil sie von der Hoffnung getäuscht werden, daß sie vielleicht mit ein wenig mehr Ausdehnung auf den Boden kommen möchten.

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 1, S. 375-382.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Don Quijote
El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha: Selección. (Fremdsprachentexte)
Don Quijote
Don Quijote: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha Roman
Don Quijote von der Mancha Teil I und II: Roman
Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon