Viertes Kapitel.

[94] Was ein Ziegenhirt Don Quixotes Gesellschaft erzählte.


Indem kam ein anderer Bursche, einer von denen, die aus dem Dorfe die Nahrungsmittel holten, hinzu und sagte: »Wißt ihr nicht, Kameraden, was im Dorfe vorgeht?« – »Wie sollen wir es wissen?« sagte einer von den andern. »Nun, so will ich euch sagen«, fuhr der junge Hirt fort, »daß heute früh der berühmte studierte Schäfer Chrysostomus gestorben ist, und wie man sich erzählt, ist er aus Liebe zu dem Teufelsmädchen Marcella gestorben, der Tochter des reichen Wilhelm, die auch in Schäferkleidern hier durch die Wildnis zieht.«

»Für die Marcella!« rief der eine aus.

»Wie ich euch sage«, antwortete der Ziegenhirt, »und was das Beste ist, so hat er in seinem Testamente befohlen, daß man ihn auf freiem Felde, wie einen Mohren, begraben soll, und zwar am Fuße des Felsen, wo die Quelle zwischen den Korkbäumen entspringt, weil er sie an dieser Stelle zum ersten Male gesehen hat. Er hat noch mehr dergleichen befohlen, aber die Geistlichen sagen, sie gäben es nicht zu und dürften es nicht zugeben, denn es sei heidnisch. Darauf hat sein guter Freund Ambrosius, der Student, gesagt, der sich auch mit ihm zum Schäfer gemacht hat, sie müßten alles zugeben, wie Chrysostomus befohlen habe, und nichts dürfe fehlen; und darüber ist nun das ganze Dorf in Aufruhr. Wie man aber sagt, so wird das doch am Ende geschehen müssen, was Ambrosius und die übrigen Schäfer, seine Freunde,[95] wollen, und morgen, wie gesagt, soll er nun mit großer Pracht beerdigt werden. Und ich glaube, daß es da viel zu sehen geben wird, ich wenigstens gehe gewiß hin, um alles zu sehen, wenn ich auch morgen gar nicht deshalb nach dem Dorfe zurückkommen könnte.« – »Das wollen wir alle tun«, sagten die Ziegenhirten, »und darum wollen wir losen, wer zurückbleiben und alle Ziegen hüten soll.«

»Recht, Pedro«, sagte ein anderer, »aber ihr braucht nicht so viele Umstände zu machen, denn ich will für euch alle hierbleiben; und das ist keine Tugend von mir, oder daß ich nicht neugierig wäre, sondern es geschieht wegen des Splitters, den ich mir letzthin in den Fuß getreten habe, womit ich nicht laufen kann.«

»Wir danken dir darum doch sehr«, antwortete Pedro. Diesen Pedro fragte Don Quixote, wer der Tote und wer die Schäferin sei; worauf Pedro erwiderte: »Soviel ich weiß, war der Gestorbene eines reichen Mannes Kind, der Bewohner eines Ortes, der hier in den Bergen liegt; er hat viele Jahre in Salamanca studiert, und dann kam er in sein Dorf zurück, worauf ihn die Leute für übermäßig gelehrt hielten. Besonders, sagten sie, habe er die Wissenschaft von den Sternen inne, und was dort am Himmel Sonne und Mond machten, und buchstäblich sagte er uns auch jeden Knips von Sonne und Mond vorher.«

»Es heißt Eklipsis, mein Freund, und nicht Knips, wenn diese beiden größten Gestirne verfinstert werden«, sagte Don Quixote. Aber Pedro, ohne auf dergleichen Nebensachen zu achten, fuhr so in seiner Erzählung fort: »Er konnte auch wissen, ob ein Jahr schlecht oder furchtbar sein würde.«

»Fruchtbar, mein Freund, müßt Ihr sagen«, rief Don Quixote.

»Fruchtbar oder furchtbar«, sagte Pedro, »das ist ja ein Ding. Ich sage also, daß, wie man sich's erzählt, sein Vater und seine Freunde auch sehr reich wurden, weil sie ihm glaubten, denn sie machten alles so, wie er riet; bald sagte er: ›Dies Jahr säet Gerste und keinen Weizen, nun müßt ihr Erbsen säen und keine Gerste, diesmal wird's eine gute Ölernte, aber in den drei folgenden Jahren gerät kein Tropfen.‹«

»Diese Wissenschaft nennt man Astrologia«, sagte Don Quixote.

»Ich weiß nicht, wie es genannt wird«, antwortete Pedro, »aber ich weiß, daß er das innehatte und noch mehr. Kurz, es waren kaum etliche Monate vergangen, seit er von Salamanca zurückgekommen war, als er eines Tages mit einem Male als Schäfer auszog, mit seiner Herde und seinem Kittel; der weite Rock, den er als Gelehrter trug, war weg, und mit ihm ging auch als ein Schäfer sein guter Freund Ambrosius, der auch im Studieren sein Kamerad gewesen war. Ich habe vergessen, Euch noch zu erzählen, wie der Gestorbene ein schrecklicher Mensch war, Verse zu machen, so hatte er auch alle Gesänge für den heiligen Weihnachtsabend geschrieben und die Gespräche für die hohen Feste, die die Burschen in unserm Dorfe aufführten und wovon die Leute sagen, daß sie überaus herrlich wären. Als die Menschen im Dorfe die beiden Schüler so mit einem Male als Schäfer angezogen sahen, verwunderten sie sich und konnten es gar nicht begreifen, aus was Ursach sie auf diese närrische Abänderung verfallen wären. Um die Zeit war auch der Vater von unserm Chrysostomus gestorben, und er erbte von ihm einen Haufen Vermögen, bewegliche Güter und Grundstücke und eine ziemliche Anzahl von großem und kleinem Vieh und eine große Menge Geld; über das alles war der Sohn nun völlig Herr. Aber er verdiente es auch, denn er war ein guter Geselle, mitleidig und freundschaftlich gegen alle guten Leute, und ein Gesicht hatte er, wie es nur so sein mußte. Endlich kam es denn heraus, warum er seine Tracht verändert hatte, und es war nichts anderes, als daß er in die Wüstenei der Schäferin Marcella nachziehen wollte, die unser Hirt vorher genannt hat und in die sich der arme gestorbene Chrysostomus verliebt hatte. Nun muß ich Euch auch erzählen, wer die Spitzbübin ist, weil Ihr es wissen müßt, denn vielleicht, und nicht einmal vielleicht, gewiß werdet Ihr dergleichen zeit Eures Lebens nicht wieder hören, wenn Ihr auch mehr als Ysop erleben solltet.«[96]

»Sagt Hiob«, erwiderte Don Quixote, der es nicht aushalten konnte, daß der Ziegenhirt so die Namen verstümmelte.

»Ei, so laßt mir doch den Ysop!« rief Pedro aus, »denn wenn Ihr mir jedes Wort so umdrehen wollt, so werden wir in einem Jahre nicht fertig.«

»Verzeiht mir, mein Freund«, antwortete Don Quixote, »ich wollte Euch nur den großen Unterschied zwischen Ysop und Hiob begreiflich machen; aber Ihr habt mir sehr gut geantwortet, denn Ihr könnt mehr Ysop als Hiobs finden, doch fahrt nur in Eurer Geschichte fort, ich will Euch nun nicht weiter unterbrechen.«

»Also, mein liebwertester Herr«, sagte der Ziegenhirt, »da war in unserm Dorfe ein Bauer, der noch reicher war wie der Vater des Chrysostomus und der Wilhelm hieß und dem Gott, nebst seinem vielen und großen Vermögen, auch eine Tochter schenkte, bei deren Geburt die Mutter starb, die wohl das herrlichste Weib war hier weitherum. Denn immer noch seh ich ihr Gesicht vor mir, in dem auf der einen Seite die Sonne und auf der andern der Mond stand, und dabei war sie so arbeitsam und gegen die Armen so mitleidig, daß ich auch gewiß glaube, sie genießt jetzt und immerdar im Himmel ihre Seligkeit. Aus Gram über den Tod einer solchen braven Frau starb auch der Mann Wilhelm und gab seine junge und reiche Tochter Marcella unter die Aufsicht eines Oheims, der Priester in unserm Dorfe ist. Das Kind wuchs auf und wurde so schön, daß wir immer dabei an die Mutter dachten, die ungemein schön gewesen war, aber bald sagte man, daß die Tochter sie noch übertreffen würde. So kam es auch, denn als sie ungefähr vierzehn oder funfzehn Jahre alt sein mochte, sah sie keiner, der nicht Gott dafür segnete, daß er sie so schön erschaffen hatte, und viele wurden in sie verliebt und wie bezaubert. Der Oheim hielt sie sehr eingezogen und unter strenger Aufsicht, aber das Gerücht von ihrer herrlichen Schönheit verbreitete sich so, daß deshalb, wie auch wegen ihres Reichtums, nicht nur aus unserm Dorfe, sondern auch viele Meilen in der Runde angesehene Leute kamen, von denen der Oheim gebeten, gequält und geängstigt wurde, daß er sie ihnen zur Frau geben möchte. Er aber, der in der Tat ein guter Christ ist, wenn er sie auch gern bald verheiratet hätte, da sie die Jahre hatte, wollte doch nichts ohne ihre Einwilligung tun, ohne dabei den Gewinn und Vorteil vor Augen zu haben, der ihm durch das Vermögen des Mädchens erwüchse, wenn er ihre Heirat aufschöbe. Und wahrlich, das wird zum Lobe des braven Priesters in jedem Hause im Dorfe erzählt. Denn Ihr müßt wissen, Herr Irrender, daß man in kleinen Dörfern über alles spricht und über alles zischelt; und Ihr werdet es einsehen, wie ich es für meine Person einsehe, daß der Geistliche ganz erstaunlich wacker sein muß, der seine Beichtkinder dahin bringt, daß sie gut von ihm reden, vollends auf dem Lande.«

»Das ist wahr genug«, sagte Don Quixote; »aber fahrt fort, denn die Geschichte ist gut, und Ihr, guter Pedro, erzählt sie gut und artig.«

»Es wäre zu wünschen«, antwortete jener, »daß alle Menschen artig wären, denn die Tugend ist die Hauptsache. Ihr müßt also wissen, daß der Oheim oft mit der Nichte sprach, ihr die Eigenschaften eines jeden auseinandersetzte, der sie zur Frau begehrte; er bat sie, sich zu verheiraten und daß sie nach ihrem Geschmacke wählen möchte. Sie antwortete ihm nichts anderes, als daß sie noch nicht ans Heiraten dächte, daß sie zu jung und unfähig sei, die Last der Ehe zu tragen. Dies schienen hinlängliche Entschuldigungen, und der Oheim drang nicht weiter in sie, denn er wartete darauf, daß sie noch etwas älter werden und sich dann einen Gefährten nach ihrem Geschmacke auswählen möchte. Denn er behauptete, und das mit Recht, daß Eltern ihre Kinder nie gegen ihren Willen verheiraten sollten. Aber eines Tages, als man's gar nicht dachte, kam die hinterlistige Marcella als Schäferin daher, und ohne sich an ihren Oheim oder die übrigen Leute im Dorfe zu kehren, die es ihr abrieten, zog sie mit den übrigen Hirtenmädchen[97] aufs Feld und hütete ihre Herde. Wie sie nun den Leuten sichtbar wurde und ihre Schönheit an den Tag kam, so läßt es sich gar nicht beschreiben, wie viele reiche Bursche, Studierte und Bauern die Tracht des Chrysostomus anlegten und ihr durch die Felder nachzogen. Einer von diesen, wie ich schon gesagt habe, war unser Gestorbene, von dem sie sagen, daß er sie nicht geliebt, sondern angebetet habe. Man muß aber nicht glauben, daß, weil sich Marcella einer so freien und ungebundenen Lebensart ergab, wobei sie so wenig oder gar nicht unter Aufsicht steht, daß sie deshalb nur den kleinsten Argwohn erregt hätte, der ihrer Ehre und Tugend nur etwas Abbruch täte. Denn sie denkt und wacht so sehr über ihre Ehre, daß von allen, die ihr dienen und sich um sie bewerben, sich noch keiner gerühmt oder mit Wahrheit sich hat rühmen können, daß sie ihm nur die kleinste Hoffnung gegeben hätte, seinen Wunsch zu erfüllen. Deswegen aber flieht sie nicht oder vermeidet die Gesellschaft und Unterhaltung der Schäfer, sondern sie geht höflich und freundlich mit ihnen um, bis irgendeiner von ihnen seine Absichten entdeckt, und wenn es denn auch die ehrlichsten und schönsten sind und er eine Heirat wünscht, so schmeißt sie ihn von sich weg wie einen Kieselstein. Und mit dieser Lebensweise richtet sie hier im Lande mehr Unheil an, als wenn die Pestilenz hereinbräche, denn ihre Freundlichkeit und Schönheit zieht alle Herzen ihr zu dienen und zur Liebe an, und ihre Verschmähung und Härtigkeit bringt sie in die Verzweiflung, und sie wissen dann nichts weiter zu sagen, als daß sie sie mit lauter Stimme die Grausame und Undankbare nennen, nebst andern ähnlichen Redensarten, die sich wohl für ihre Eigenschaft und Denkungsart schicken. Wenn Ihr Euch, gnädiger Herr, etliche Tage hier aufhalten wollt, so könnt Ihr sehen, wie diese Berge und Täler von den Klagen der Verworfenen ertönen, die ihr folgen. Nicht weit von hier ist ein Ort, an dem zwei Dutzend hohe Buchen stehen, davon ist keine, in deren glatte Rinde nicht der Name Marcella gegraben und geschrieben wäre; zum Überfluß haben einige noch eine Krone in denselben Baum eingeschnitten, als wenn der Liebhaber ganz deutlich hätte ausdrücken wollen, daß Marcella unter allen Mädchen allein die Krone der Schönheit verdiene. Dort seufzt ein Schäfer, hier klagt ein anderer, dort vernimmt man verliebte Gesänge, hier verzweiflungsvolle Liebesqual. Etliche bringen die ganze Nacht am Fuße einer Eiche oder eines Felsens zu, und ohne daß sie die nassen Augen geschlossen haben, in ihre Gedanken vertieft und entzückt, findet sie noch am Morgen die Sonne wieder; ja einige gibt es, die, ohne mit Seufzen nur einen Augenblick innezuhalten, in der Sonnenhitze liegen in den heißesten Mittagsstunden, auf dem brennenden Sande ausgestreckt, und ihre Klagen dem mitleidigen Himmel zuschicken. Und über diesen und jenen sowie über jene und diese triumphiert hohnlachend die schöne Marcella. Alle, die wir sie kennen, sind begierig, was aus ihrem Übermute werden soll und wer der Glückliche sein wird, der diese fürchterliche Kreatur bezähmen und ihre entzückende Schönheit genießen wird. Alles das, was ich Euch hier erzählt habe, ist die vollkommenste Wahrheit, so daß ich deshalb auch das glaube, was unser Hirte vom Tode des Chrysostomus uns sagte. Ich rate Euch auch dazu, gnädiger Herr, daß Ihr morgen ja der Beerdigung beiwohnt, denn es ist gewiß viel zu sehen, Chrysostomus hat viele Freunde, und der Ort, wo er will begraben sein, ist nur eine halbe Meile von hier.«

»Ich will es nicht versäumen«, antwortete Don Quixote, »auch danke ich Euch für das Vergnügen, welches Ihr mir durch Erzählung einer so angenehmen Geschichte gemacht habt.«

»Oho!« rief der Ziegenhirt, »ich weiß nicht die Hälfte von alledem, was den Liebhabern der Marcella begegnet ist; vielleicht finden wir aber morgen auf dem Wege einen Schäfer, der uns alles sagen kann. Jetzt ist es aber wohl Zeit, daß Ihr Euch unter einem Dache schlafen legt, denn die freie Luft könnte Eurer Wunde schaden, obgleich bei den Kräutern, die ich aufgelegt habe, kein widriger Zufall mehr zu befürchten ist.«

Sancho Pansa, der den Hirten mit seiner langen Erzählung schon zum Satan gewünscht hatte, bat[98] seinerseits auch, daß sein Herr sich in Pedros Hütte möchte schlafen legen. Er tat es auch und brachte den größten Teil der Nacht mit dem Andenken an seine Gebieterin Dulcinea zu, in Nachahmung jener Liebhaber der Marcella. Sancho Pansa machte es sich zwischen dem Rozinante und dem Esel bequem und schlief, nicht wie ein unbegünstigter Verliebter, sondern wie ein Mann, der häufige Fußtritte erlitten hatte.

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 1, S. 94-99.
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