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Die Geretteten

[368] Vor der Wiege lieget blutig,

Jung und schön, der Mann erschlagen,

Hat die schweren Wunden mutig

Vorn auf seiner Brust getragen;

Auf der Wiege selber lieget,

Angeklammert, angeschmieget,

Regungslos das zarte Weib,

Und den Säugling, welcher weinet

Und der Brust bedürftig scheinet,

Deckt sie starr mit ihrem Leib.


Jourdain, der mit zweien Booten

Kam, die Küste zu erspähen,

Und den letzten der Chioten

Rettung bringend beizustehen,

Jourdain sieht das Bild mit Schaudern,

Sucht die Mutter ohne Zaudern

Zu erwecken – kalt und tot!

Zitternd nimmt er in die Arme

Nun das Kind, es trieft das arme

Von der Mutter Blut so rot.


Schüsse, die er höret, ziehen

Ins Gebirg ihn; mit Barbaren

Kämpft ein Grieche; jene fliehen,

Und befreiet von Gefahren,

Zeigt ihm dieser eine bleiche

Junge Frau, die auf die Leiche

Des durchbohrten Säuglings weint;

Trost will dieser Schmerzenreichen

Hochergraut ein Priester reichen,

Und er weint mit ihr vereint.


In den Schoß des jungen Weibes

Legt den Findling Jourdain nieder:

»Nahm das Kind dir deines Leibes

Gott, er schenket eins dir wieder;

Nennen sollst du's: Gottesgabe.

Aber auf! und folgt; ich habe[368]

Boote dort bereit zur Fahrt.«

Wie die Gatten folgend danken,

Redet zu dem edeln Franken

So der Priester hochbejahrt:


»Zeuch mit Gott, der her dich sandte,

Und er leuchte deinen Wegen;

Der in dir zu uns sich wandte,

Spendet auch durch mich den Segen;

Schau auf diese meine Haare,

Die gebleichet achtzig Jahre,

Nicht der Lust gehör ich an;

Es geziemt mir hier zu wandeln,

An den Brüdern so zu handeln,

Wie du, Fremder, hast getan.«


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 368-369.
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