Der Prolog des Klerk.

Vers 10443–10498.


»Gelehrter Herr von Oxford! – meiner Treu'!«

– Sprach unser Wirth – »Ihr seid so still und scheu,

Wie an der Hochzeitstafel eine Braut!

Von Euch hört' ich tagsüber keinen Laut.

Mir scheint, daß Ihr tief in Gedanken seid;

Doch jedes Ding – sagt Salamo – zur Zeit!

Um Gottes Willen! macht ein froh Gesicht,

Denn zum Studiren ist die Zeit hier nicht!

Erzählet etwas, das uns fröhlich stimmt.

Sofern man Theil an einem Spiele nimmt,

Muß man sich auch an seine Regeln binden.

Doch predigt nicht von Weinen über Sünden,

Wie's in den Fasten Bettelmönche treiben.

Nein! macht es so, daß wir hübsch munter bleiben!

Erzählt ein Abenteuer lust'ger Art.

Die Bilder, Floskeln und Figuren spart

Euch für den hohen Styl auf, der sich paßt,

Wenn Schreiben man an Könige verfaßt.

Hier aber, bitt' ich Euch, so schlicht zu reden,

Daß es verständlich ist und klar für Jeden.«[1]


Und der Gelehrte freundlich Antwort gab:

»Ich stehe« – sprach er – »unter Eurem Stab;

Ihr seid's, mein Wirth, der über uns regiert,

Und mit Gehorsam wird von mir vollführt

Drum Alles, was vernünftig ist und billig.


Was mir in Padua mitgetheilt ward, will ich

Euch wiederholen, wie erzählt mir's hat

Ein würd'ger Mann, erprobt in Rath und That.

Jetzt ist er todt und ruht in seinem Schrein;

Gott möge gnädig seiner Seele sein!


Franzisk Petrark hieß der gekrönte Dichter,

Deß süßer Redefluß der Dichtkunst Lichter

Durch alle Gau'n Italiens entflammte,

Wie dies für Kunst, Gesetz und die gesammte

Philosophie Lignanus hat gethan.

Doch an uns Alle tritt der Tod heran;

Ein Augenblick genügt, uns zu verderben;

Und Beide starben, wie wir Alle sterben.


Um fortzusetzen nun, wie ich begann,

Was mir erzählt hat dieser würd'ge Mann,

So wißt, daß er mit einem Vorberichte

Im hohen Styl eröffnet die Geschichte.

Darin beschreibt er Gegend und Natur

Von Piemont, Saluzzo und der Flur

Des westlichen Lombardiens, dessen Grenzen

Der Appeninen hohe Gipfel kränzen;

Und näher insbesondre hebt er dann

Vom Berge Vesulus zu reden an,

Woselbst der Po aus kleinem Quell entspringt,

Dann wachsend, ostwärts durch Aemilia dringt[2]

Und durch Ferrara hinströmt bis Venedig.

Doch lang ist die Beschreibung, darum red' ich

Davon nicht mehr. Zur Sache – wie mir scheint –

Gehört sie nicht, und war wohl nur gemeint,

Um besser einzuleiten die Geschichte.


Doch horcht auf das, was ich nunmehr berichte!«

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 1-3.
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