Der Prolog des Pfarrers.

[245] Vers 17322–17385.


Als die Geschichte hier zu Ende lief,

War unterm Meridian bereits so tief

Die Sonne, daß sie scheinbar überm Rand

Der Erde neunundzwanzig Grade stand.

Nach meiner Schätzung war's vier Uhr daher;

Denn elf Fuß Länge, minder oder mehr,

Erreichte schon mein Schatten mittlerweile

– Von solchen Füßen, wenn man in sechs Theile

Den Leib zerlegt nach gleicher Proportion. –

Der Mond war nahe der Exaltation

Bis mitten in die Wage fortgeglitten,

Als eines Dorfes Ende wir durchritten;

Und wieder führte, wie gebräuchlich war,

Der Wirth auch diesmal unsre lust'ge Schaar,

Und sprach: »Gesammte hohe Herr'n, ich meine,

Es fehlt uns an Geschichten nur noch eine.

Erfüllt ist mein Erlaß und mein Geheiß,

Erzählt hat, denk' ich, Jeder hier im Kreis.

Beinah zu Ende führt' ich die Geschäfte;

Nun schenke Gott dem letzten Redner Kräfte,[246]

Daß uns ein lust'ger Vortrag noch erfreue!

Herr Priester!« – rief er – »sag' auf Wort und Treue,

Bist Du Vicarius, Pfarrer oder was?

Sei, was Du seist, verdirb uns nicht den Spaß!

Denn außer Dir sprach Jeder; drum frisch zu,

Schnall' auf und zeig', was hast im Schnappsack Du?

Fürwahr, ich denke, Du kannst mit Geschick

Das Schwerste lösen; dafür bürgt Dein Blick.

Pottsknochen! trag' uns eine Fabel vor!«


»Mit Fabeln« – fuhr der Pfarrer rasch empor –

»Werd' ich Euch sicher nicht die Zeit vertreiben.

Es warnte Paulus schon in seinem Schreiben

An den Thimotheus vor Unwahrheiten,

Vor Fabelei'n und solchen Schlechtigkeiten.

Wie? soll ich Unkraut streu'n mit meiner Hand,

Wenn Weizen ich zu säen bin im Stand?

Doch, wenn Ihr wünscht, so will ich gern berichten

Euch Tugendmähren und Moralgeschichten,

Und Euch Vergnügen durch erlaubte Sachen,

Soweit ich kann, zu Ehren Christi machen,

Falls Ihr ein gütiges Gehör mir schenkt.

Doch aus dem Süden stamm' ich, das bedenkt.

Im Rumm, Ramm, Ruff bin ich zu Haus mit nichten

Und kann, weiß Gott, auch keine Reime dichten,

Noch glänzend reden. Soll ich drum erzählen,

Muß ich ein kleines Prosastück mir wählen,

Um unser Fest zu schließen und zu enden.

Mög' Jesu Gnade mir Verständniß senden,

Damit ich auf den rechten Pfad Euch weise

Der herrlich hocherhab'nen Pilgerreise

Zum himmlischen Jerusalem empor.[247]

Verstattet Ihr's, so trag' ich es Euch vor

Im Augenblick. Entscheidet nach Behagen;

Ich bitte drum; nichts Bess'res kann ich sagen.

Doch die Betrachtung unterstell' ich gern

Den Korrekturen schriftgelehrter Herr'n.

Denn wörtlich nach dem Text erzähl' ich nicht,

Obwohl es, glaubt mir, seinem Sinn entspricht.

Und drum erklär' ich frei und offen Allen,

Gern laß ich Korrekturen mir gefallen.«


Wir stimmten gleich nach diesem Wort ihm bei,

Denn uns schien klar, daß seine Absicht sei,

Mit irgend einen Tugendspruch zu enden,

Und unsre Hörerschaft auf sich zu wenden.

Drum ließen wir durch unsern Wirth ihm sagen,

Wir bäten ihn, gefälligst vorzutragen.


Gleich sprach der Wirth im Auftrag von uns Allen:

»Glück zu, Herr Priester! Wählt Euch zu Gefallen

Den Stoff. Wir lauschen Alle mit Vergnügen.«

Und drauf begann er noch hinzuzufügen:

»Fangt an, uns die Betrachtung mitzutheilen.

Tief steht die Sonne. Ihr müßt Euch beeilen.

Drum macht es kurz; und daß es fruchtbar sei

Und nütze, steh' Euch Gott in Gnaden bei.«

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 245-248.
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