De Invidia.

[276] Nach dem Stolze will ich von dem garstigen Laster des Neides sprechen, welche nach den Worten des Philosophen Verdruß über das Wohlergehen anderer Leute ist, und nach den Worten des heiligen Augustinus Verdruß über das Wohl und Freude über den Harm von Anderen. Diese garstige Sünde ist geradezu wider den heiligen Geist. Zwar ist jede Sünde wider den heiligen Geist, aber grade so, wie alles Gute eigentlich dem heiligen Geiste angehört, und aus der Bosheit der Neid entspringt, so ist der letztere recht eigentlich der Gnadenfülle des heiligen Geistes zuwider. Nun zerfällt die Bosheit in zwei Arten, das heißt: in die Verwegenheit des Herzens zum Bösen, oder darin, daß das Fleisch des Menschen so blind ist, daß er nicht bedenkt oder nicht glaubt, daß er in Sünde sei, welches die Verwegenheit des Teufels ist. Eine andere Sorte von Neid ist, wenn ein Mensch der Wahrheit widerstreitet, obwohl er weiß, daß es Wahrheit ist; und auch, wer der Gnade Gottes widerstreitet, welche Gott seinem Nächsten geschenkt hat; und alles dies geschieht durch Neid. Gewißlich, dann ist Neid die schlimmste Sünde, die es giebt, denn, wahrlich, alle andern Sünden widerstreiten nur meistens einer besonderen Tugend, aber Neid sicherlich jeder Art von Tugenden und Trefflichkeiten; denn der[276] Neidhart ist betrübt über alle gute Eigenschaften seiner Nachbarn. Und in dieser Art ist Neid von allen andern Sünden verschieden; denn kaum giebt es eine Sünde, in welcher nicht irgendwie Genuß liegt, nur den Neid ausgenommen, welcher stets nur Qual und Verdruß in sich trägt. Die Unterabtheilungen des Neides sind folgende. Da ist zunächst der Aerger über die Trefflichkeit anderer Menschen und über ihr Wohlergehn, und da diese natürliche Veranlassungen zur Freude sein sollten, so ist der Neid eine Sünde gegen die Natur. Die zweite Art von Neid ist Freude über anderer Leute Unglück; und das gleicht ganz eigentlich dem Teufel, der stets über alles Unglück des Menschen frohlockt. Aus diesen beiden Arten kommt Verläumdung, und diese Sünde der Verläumdung oder der Verkleinerung zerfällt wiederum in gewisse Sorten, z.B. Jemand lobt seinen Nachbar aus schlechter Absicht, denn er macht zum Schlusse einen bösen Knoten; immer setzt er ein »aber« am Ende hinzu, das mehr Tadel in sich schließt, als all sein Loben werth ist. Die zweite Art ist, wenn durch Verläumdung bei einem guten Menschen oder bei einer Sache, die in guter Absicht gesprochen oder ausgeführt wird, in böser Absicht alles Gute verdreht und auf den Kopf gestellt wird. Die dritte ist die Vorzüge des Nächsten zu verkleinern. Die vierte Gattung von Verläumdung ist diese: daß der Verläumder sagt, wenn Jemand von der Vortrefflichkeit eines Mannes spricht: Traun! der und der ist dennoch besser als er, indem er den heruntermacht, den Andre preisen. Die fünfte Art ist die: mit Wohlgefallen das Schlimme anzuhören, welches von andern Leuten gesprochen wird. Dieses ist eine sehr große Sünde, und wird noch durch die böse Absicht des Verläumders schlimmer. Nach Verläumdung kommt das Mißvergnügen und das Murren und dies entspringt aus Ungeduld bisweilen gegen Gott, bisweilen gegen Menschen. Gegen Gott, wenn man über die Qualen der Hölle oder über Armuth und Verlust an Gut und über Sturm und Regen murrt; oder mißvergnügt ist, daß böse Menschen Glück und gute Unglück haben; denn alle diese Dinge soll der Mensch geduldig tragen, weil sie aus der Weisheit und Bestimmung Gottes hergekommen sind. Zuweilen hat das Murren seinen Grund in Habsucht, wie bei Judas über Magdalene, als sie mit ihrer kostbaren Salbe das Haupt unseres Herrn Jesus Christus ölte. Solch' eine Art von Murren ist auch, wenn Jemand Mißvergnügen hat über das Gute, welches er selber thut, oder welches andre Leute aus ihrem eignen[277] Mitteln thun. Bisweilen kommt das Murren aus Stolz, wie zum Beispiel Simon, der Pharisäer, über die Magdalene murrte, als sie sich Jesus Christus nahte und zu seinen Füßen über ihre Sünde weinte; und zuweilen entspringt es aus Neid, wenn Leute das Schlechte von einem Manne aufdecken, was verborgen war; oder auch wenn man Jemandem durch falsche Mittheilungen zu schaden sucht. Murren findet auch oft bei Dienstboten statt, die ungehalten sind, wenn ihre Herrschaft ihnen das zu thun heißen, was ihnen obliegt; und da sie nicht öffentlich dem Befehle ihrer Herrschaften zu widersprechen wagen, so wollen sie dennoch übel sprechen und verdrießlich sein und heimlich murren, was sie des Teufels pater noster nennen; und wenn der Teufel freilich auch kein pater noster hat, so giebt doch das gemeine Volk der Sache diesen Namen. Bisweilen kommt das Mißvergnügen aus Zorn oder aus heimlichen Haß, wodurch Groll im Herzen genährt wird, wie ich später erklären werde. Dann kommt Bitterkeit im Herzen, durch welche jede gute That des Nächsten bitter und unschmackhaft erscheint. Dann kommt Zwietracht, welche alle Arten von Freundschaftsbanden löst. Dann kommt Verspottung des Nächsten, so viel Gutes er auch thun mag. Dann kommt Anschwärzen, indem ein Mensch nach der Gelegenheit sucht, seinen Nächsten zu kränken; welches der Verschlagenheit des Teufels gleicht, welcher Tag und Nacht wartet, um uns alle zu verschwärzen. Dann kommt Heimtücke, durch welche ein Mensch seinem Nächsten heimlich zu schaden trachtet; und wenn er es nicht vermag, so bleibt die böse Absicht, zum Beispiel sein Haus heimlich anzuzünden, oder ihn zu vergiften, oder sein Vieh zu tödten, oder ähnliche Sachen.

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 276-278.
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