Remedium Invidiae.

[278] Nun will ich über das Mittel wider diese garstige Sünde des Neides sprechen. Das fürnehmlichste ist: Gott über Alles zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst; denn, fürwahr, das eine kann nicht ohne das andere bestehen. Und verlaß Dich darauf, daß Du Deinen Nächsten als Deinen Bruder ansehen mußt; denn wir haben gewißlich alle einen Vater und eine Mutter dem Fleische nach, nämlich Adam und Eva, und ebenso einen geistlichen Vater, nämlich Gott im Himmel. Deinen Nächsten bist Du verpflichtet zu lieben und ihm alles Gute zu wünschen, und daher sagt Gott: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das heißt, um der Erhaltung des Leibes und der Seele willen. Und außerdem sollst du ihn lieben durch Worte und[278] durch gütige Ermahnungen, durch Züchtigung und durch Trost in seinen Nöthen, und du sollst für ihn von ganzem Herzen beten. Und durch die That sollst du ihn so lieben, daß du ihm Barmherzigkeit erweist, wie du es wünschst, daß sie dir selber erwiesen werde; und deßhalb sollst du ihm keinen Schaden zufügen, noch böse Worte wider ihn reden, noch Nachtheil an seinem Leibe, seinen Gütern und seiner Seele thun durch verführerisches und böses Beispiel. Du sollst nicht begehren sein Weib, noch alles, was sein ist. Verstehe gleichfalls, daß unter dem Namen deines Nächsten auch dein Feind mit inbegriffen ist. Gewiß, man soll seinen Feind nach dem Gebote Gottes lieben und wahrlich in Gott sollst du deinen Freund lieben. Ich sage, deinen Feind sollst du um Gottes willen lieben nach seinem Gebote; denn wenn es der Vernunft entspräche, seinen Feind zu hassen, so würde zuverlässig auch Gott nicht uns, als seine Feinde, zu seiner Liebe zugelassen haben. Der Mensch soll gegen die drei verschiedenen Uebel, die ihm sein Feind zufügt, drei Sachen thun, wie folgt: gegen Haß und Groll im Herzen soll er ihn von Herzen lieben; gegen Schmälen und böse Worte soll er für seinen Feind beten; gegen schlechte Handlungen seines Feindes soll er ihm Gutes erweisen. Denn Christus sagt: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen und verjagen und verfolgen, und thut Gutes denen, so euch hassen. Seht! so befiehlt unser Herr Jesus Christus, unsern Feinden zu thun. Fürwahr, die Natur treibt uns, unsere Freunde zu lieben, und, meiner Treu, unsere Feinde bedürfen unserer Liebe mehr, als unsere Freunde; und, sicherlich, Denen, die bedürftiger sind, sollte man auch mehr Gutes erweisen. Und, fürwahr, so zu thun ermahnt uns die Liebe Jesu Christi, der für seine Feinde starb; und je schwerer solche Liebe zu erfüllen ist, um so größer ist das Verdienst, und deßhalb wird durch die Liebe gegen unsere Feinde das Gift des Teufels überwunden. Denn, so wie der Teufel durch Demuth bezwungen wird, so wird er auch zu Tode getroffen durch die Liebe gegen unsere Feinde; dann ist aber zuverlässig Liebe die Arznei, welche das Gift des Neides aus dem Herzen des Menschen hinausschafft.

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 278-279.
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