[Ich fürcht' dich, alter Schiffsgesell]

[15] ›Ich fürcht' dich, alter Schiffsgesell,27

Fürcht' deine dürre Hand,

Und du bist lang und schlank und braun,

Wie des Meers gerippter Sand!


Ich fürcht' dich und dein glühes Aug'!28

Ich fürchte dich so sehr! –‹

»Fürcht nicht, fürcht nicht, du Hochzeitsgast!

Ich starb nicht auf dem Meer!


Allein, allein und ganz allein

Auf weiter, weiter See!

Nicht lindert meine Todesangst

Ein Heil'ger in der Höh'!


So viele Menschen, schön und stark!29

Und keiner rührte sich!

Und tausend Tier' im Moderschlamm,

Sie lebten; und auch ich!


Ich blickte auf die faule See30

Und wandte die Augen fort!

Ich blickte auf das faule Deck;

Die Toten lagen dort!


Ich blick' empor; will beten dann;

Doch meiner Lipp' mit Stocken

Entfließt nur gottlos Flüstern, macht

Mein Herz wie Staub so trocken.


Ich schließ' das Aug'; gleich Pulsen pocht

Des Auges Stern beim Schließen;

Des Himmels Höh', die blaue See

Tut lastend meinen Augen weh,

Und die Toten mir zu Füßen!


Auf ihren Gliedern kalter Schweiß;31

Nicht faul ward ihr Gebein.

Und immer sah ihr Aug' mich an

Mit geisterhaftem Schein.


[16] Zur Hölle schleppen kann der Fluch,

Den eine Waise spricht;

Doch schreckenvoller ist der Fluch

Auf Toter Angesicht;

Ich sah ihn sieben Tage lang,

Doch sterben konnt' ich nicht.


Und wiederum ging auf der Mond,32

Zur Seit' ihm wen'ge Sterne;

Er schwebte klar und mildiglich

Durch die blaue Himmelsferne.


Sein Strahl beschien die schwüle Flut,

Als ob sie Reif bedeckte;

Doch, wo des Schiffes Schatten lag,

Da, vor wie nach, so Nacht wie Tag,

Die rote Flamme leckte.


Und in des Schiffes Schatten sah33

Ich große Wasserschlangen;

Sie schlängeln sich in weißer Spur;

Wenn sie sich bäumen, sind sie nur

Mit flockigem Feu'r umhangen.


Und in des Schiffes Schatten gern

Sah ich ihr blitzend Fell,

Wie Sammet schwarz und blau und grün;

Sie schwimmen her, sie schwimmen hin,

Die Spur wie Gold so hell.


O, glücklich ihr; wie schön ihr seid,34

Sagt eine Zunge nie!

Und Liebe quoll im Busen mir,

Und glücklich pries ich sie;35

Mein Heiliger erbarmte sich,

Und glücklich pries ich sie.


Zur Stunde konnt' ich beten dann!36

Von meinem Halse frei

Fiel da der Albatros und sank

Ins Meer, so schwer wie Blei.


Quelle:
Coleridge, S[amuel] T[aylor]: Der alte Matrose. München 1925, S. 15-17.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon