[Und lange Zeit verfloß. Verdorrt]

[13] Und lange Zeit verfloß. Verdorrt17

War jeder Gaum'. Wie Glas

Die Augen! Lange, lange Zeit!

Die Augen all' wie Glas!

Da blickt' ich westwärts – schau! da sah

Am Horizont ich was!


Zuerst war es ein kleiner Fleck!

Der ward zum Nebel bald

Und regte und bewegte sich

Und wurde zur Gestalt.


Ein Fleck, ein Nebel, dann Gestalt,

Und näher kommt es stets;

Als neckt' es einen Wassergeist,

So schießt es und so dreht's.


Mit trocknem Gaum', die Lippen kaum18

Noch rot stehn wir; kein Laut

Erschallt – sind stumm; hin ist der Mut!

Da biß den Arm ich, saugte Blut

Und rief: Ein Segel! schaut!


[13] Mit trocknem Gaum', die Lippen kaum19

Noch rot, sehn sie mein Winken;

Vor Freude weinte Groß und Klein,

Und alles zog den Atem ein,

Als ob sie wollten trinken.


Seht! rief ich, seht! es dreht nicht mehr!20

Es naht uns, bringt uns Heil!

Und ohne Flut und ohne Wind

Schwimmt's auf uns zu in Eil.


Des Westens Flut war eine Glut;

Der Tag war bald verronnen!

Und sinkend ruht auf Westens Flut

Das breite Rund der Sonnen!

Und die Gestalt stellt zwischen uns

Sich und das Rund der Sonnen.


Und schwarze Streifen treten stracks21

Vor des Ozeans goldne Braut;

Und glüh'nd, wie durch ein Kerkertor,

Ihr brennend Antlitz schaut.


Ach, dacht' ich, und mein Herz schlug laut,

Denn näher kam es immer;

Das seine Segel, blitzend hell

Wie Mettenfädenschimmer?


Das seine Rippen, so die Sonn'22

Durchscheint so feuerrot?

Und ist nur jenes Weib an Bord?

Ist das ein Tod? sind zweie dort?

Ist ihr Gemahl der Tod?


Rot ist ihr Mund; frei her sie schaut;

Ihr Haupthaar golden wallt;

Weiß ist, wie Aussatz, ihre Haut!

Die Nachtmahr ist's, die Totenbraut,

Macht Menschenblut so kalt!


[14] Der Schiffsrumpf kommt, legt Bord an Bord;23

Da würfelten die Zwei.

Der Würfel fiel! Gewonnen Spiel!

Spricht sie und pfeift dabei.


Die Sonne sinkt, die Sterne glühn,24

Die Nacht kommt stracks heran;

Mit leisem Flüstern übers Meer

Schießt fort der Geisterkahn.


Wir horchen, sehn ihn seitwärts fliehn;

Die Furcht aus meinem Herren schien

Das Lebensblut zu trinken.

Die Nacht dick, trüb der Sterne Kreis;

Des Steurers Antlitz stier und weiß

Bei seiner Lamp'; – es sinken

Vom Segel Tropfen Taues; fern

Im Osten steht der Mond, ein Stern

Schimmernd zu seiner Linken.


Und alle, bei des Mondes Schein,25

Mit stierem, gräßlichem Blick

Sehn grinsend mich und klagend an:

Mir flucht ihr Schmerzensblick!


Viermal fünfzig Menschen wohl,

Sie sinken leblos nieder.

Sie stöhnen nicht, sie seufzen nicht.

Aufstehn sie nimmer wieder.


Die Seelen fliehn der Leiber Haft;26

Glück harrt auf sie und Grausen;

Und jede mir vorüberschwirrt,

Wie meiner Armbrust Sausen.«


Quelle:
Coleridge, S[amuel] T[aylor]: Der alte Matrose. München 1925, S. 13-15.
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