Kaum dunkelt's ...

[125] Kaum dunkelt's – und die nackte Stunde würmt

Goldhungrig wieder durch die Gassen ...

In mir war's still, als hätt' es ausgestürmt –

Als hätt' ich allen Zwiestreit eingetürmt –

Nun wähn' ich wieder mich so gottverlassen ...


Ins Abendrot, das kaum die Nacht verschlang,

Hatt' ich ein Märchen kühn von Gott geträumt ...

Und der Begeistrung Flammenüberschwang,

Des heil'gen Geistes heißer Gipfeldrang,

Hatt' himmelöffnend mir die Welt verschäumt ...


Auf stillen Pfaden, wo vom lauten Markt

Nur selten ein verirrtes Klingen tönt,

War ich in Gott gewachsen und erstarkt,

Hatt' alle Unrast tapfer eingesargt,

Und in mir war der Geist, der da versöhnt! ...


Nun schweif' ich wieder durch das Stadtgewühl ...

Kaum dunkelt's, und der Frühlingshimmel hat

Noch keine Sterne ... Und mein Kraftgefühl

Zerschellt an dieser Toren seichtem Spiel –

Die Schwingen meiner Seele sinken matt ...


Das alte Lied! ... Auf allen Lippen liegt

Nach Gold, nach rotem Gold der wilde Ruf ...

Die Sünde hat jedwedes Herz besiegt,

Und wie ein Schrei durch alle Lüfte fliegt:

Wir sind die Frucht, die Kains Same schuf! ...
[126]

Mit frechem Blick lädt sich die Schande ein,

Im Winkel hockt das Elend, ein Fragment ...

Und drüber nun ein heller Sternenschein – –

Ich treibe brütend durch der Menschen Reihn ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wann siegt die Stunde, da der Kampf entbrennt?

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 125-127.
Lizenz:
Kategorien: