I.

Es gab gerade die Zeit um die vierte und fünfte Nachmittagsstunde an einem Märztage. Der Wirth vom Café Caesar stand hinter dem Buffet und zählte Geld. Das Klimpern und Klirren der Metallstücke klang deutlich zu dem Tische herüber, an dem Herr Dr. Adam Mensch und Herr Referendar Clemens von Bodenburg saßen. Bodenburg zog sich jetzt hinter den Figaro zurück. Nur ein Paar Gäste noch lebten da und dort im Lokal herum. Der Verkehr war im Ganzen geringfügig um diese Stunde.

Adam Mensch trank den letzten Schluck seines cognacgemischten Kaffees aus und rückte seiner Börse auf den Leib.

»Kellner!«

»Herr Doctor!«

»Bitte zahlen!«

»Jawohl!«

Der Kellner kam herangelaufen.

»Ein Kaffee – schwarz – und einen Cognac –«

»Vierzig Pfennige!«

Adam gab einen Fünfziger hin: »Bitte!«

»Danke sehr!«

Der Kellner raffte die Zeitungen zusammen, die auf dem Tische und den nächsten Stühlen herumlagen, bückte sich nach einem Journal, das ihm entglitten war, und schleppte die papierne Bürde von dannen. Adam Mensch stand auf, fuhr sich mit der linken, etwas fieberfrostrothen Hand über Stirn und Haar und griff mit einer Bewegung, die nicht ganz frei von Pose war, nach seinem Ueberzieher.

Der Kellner, der sich seiner Zeitungen entledigt hatte und eben um das Buffet bog, stürzte wieder auf Adam zu, um ihm beim Anlegen behülflich zu sein.

»Danke!«

»Bitte!«

Da that sich die Thür des Café's auf und eine Dame trat herein, machte ein paar Schritte, blieb sodann stehen, wurde etwas verlegen, etwas roth, sah sich fragend um, ging noch einen Schritt weiter – und blieb wiederum stehen.

Das Buffet war jetzt leer, der Wirth zufällig abwesend.

Nun tauchte vom hinteren Raume des Café's der Zeitungskellner, ein kleiner, beweglicher Gesell mit einem angenehm verkniffenen Gesicht, auf. Er trug eine Zeitung in der Hand, die er der Dame übergab. Diese drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, um und verließ mit nicht ganz sicherem Schritt das Lokal. Adam bemerkte, wie sie von den Blicken der meisten Gäste zuvorkommend hinausbegleitet wurde.[2] Auch Herr von Bodenburg hatte seinen breitblättrigen Figaro sinken lassen. »Ganz niedliches Kind!« urtheilte er schmunzelnd.

»Wer ist die Dame eigentlich –?« fragte Adam den Kellner, der noch immer in seiner Nähe stand und natürlich an der allgemeinen Aeugelei theilgenommen hatte. »Ich habe sie schon mehrere Male um diese Zeit hier gesehen«, fuhr der Herr Doctor fort.

»Ich glaube, Fräulein Irmer heißt sie – sie holt immer die Volkszeitung für ihren Vater – der hat nachabonnirt«, berichtete der Kellner.

»So! Danke schön! Adieu, Herr von Bodenburg!«

»Adieu, Herr Doctor!«

Adam Mensch ging langsam hinaus, Herr von Bodenburg sah ihm nach und schüttelte den Kopf. »Sonderbarer Kerl!« murmelte er. »Kellner, nehmen Sie das Schachbrett weg und bringen Sie mir noch – ach ja! ich wollte ja einmal Ihren Absynth probiren – also bitte! ...« rief der wackere Herr Referendar sodann laut.

»Ja wohl –!« –

Adam hatte vor dem Café nach rechts und links ausgeschaut, um die Spur von Fräulein Irmer – »ja ja! so hieß sie doch –? hatte der Kellner nicht diesen Namen genannt?« – wiederzufinden. Richtig! Da drüben ging sie. Nud jetzt bog sie um die Ecke. Sollte er ihr folgen? Aber warum? Hatte er einen Grund dazu –? Ließ er[3] sich, indem er diesem spontanen Bedürfnisse nachgab und dasselbe in einen bewußten Willensakt umsetzte, nur von einer zufälligen Stimmung, einer ersten besten Laune leiten? Wollte er sich zerstreuen, auf andere Gedanken kommen, sich den stechenden Schmerz in den Schläfen vergessen machen? Oder reizte ihn irgend Etwas an diesem Weibe, das er schon öfter im Café Caesar gesehen ... dessen aufgereckte Gestalt mit ihrer reservirten Halbfülle seinem Auge wohlgethan? War ihm dieses bleiche Gesicht mit der sonderbaren Kreuzung im Ausdruck, wenn seine ursprüngliche Herbheit und abweisende Strenge sich mit der momentanen Verlegenheit, Scheu und Unsicherheit paarten – war es ihm »anziehend«? Adam war noch nicht zu einem transparenten Ergebnisse gelangt, als er sich schon über den Fahrdamm schreiten und die Richtung nach jener einmündenden Straße nehmen sah, um deren Ecke Fräulein Irmer soeben verschwunden war.

Einige Minuten später hatte der grübelnde Herr Doctor die Dame dicht vor sich.

Fräulein Irmer ging langsam, einförmig, beinahe schwerfällig. Sie wandte sich nicht nach rechts noch nach links, gerade aufgerichtet trug sie den Kopf und mußte, wie Adam aus ihrer Haltung schloß, stets in der Richtung ihres Weges vor sich hinstarren – und doch über all' die Menschen, die vor ihr hergingen oder ihr begegneten, hinwegsehen, unberührt von den lärmenden, zuckenden Schatten, mit denen das unstäte Leben sie umgab. Adam[4] Mensch imponirte diese Theilnahmlosigkeit immerhin ein Wenig. Und sie imponirte ihm vor allem darum, weil seine eigene, sehr nervöse und unruhige Natur sich von Jedwedem in Anspruch nehmen ließ, was auf sie eindrängte, auf Alles eingehen mußte, was um sie herum athmete, lebte und sprach.

Nun fiel es ihm gerade ein, sich der Dame einmal bemerklich zu machen. Er ging hart an ihr vorüber, sah sie scharf von der Seite an und schritt ihr dann voraus. Jetzt blieb er vor dem Schaufenster eines großen Delicatessengeschäftes stehen und wandte sich auffällig um, als er annehmen konnte, daß Fräulein Irmer in seiner Nähe war. Er fixirte sie scharf und suchte ihr Auge festzuhalten. Die Dame streifte ihn mit einem kurzen Blicke und sah dann über ihn hinweg. Das ärgerte den Herrn Doctor ein Wenig. Er hielt sich jetzt in ihrer intimen Nähe und folgte ihr dicht auf den Sohlen. Fräulein Irmer wurde augenscheinlich unruhig. Der Kopf senkte sich und drehte sich in kurzen, harten Bewegungen, bald nach links, bald nach rechts. Sie hatte begonnen, von ihrem Begleiter Notiz zu nehmen.

Die Dämmerung wuchs. Die Schatten der auseinanderquellenden Nacht fielen dichter und dunkler. Jetzt flammten die ersten Laternen auf.

Eine Buchhandlung lag am Wege. Fräulein Irmer trat in den Laden, Adam Mensch folgte ihr nach einigen Secunden. Er hörte, wie sich die Dame mit etwas belegt-ansgefranster Stimme Eugen Dühring's[5] »Werth des Lebens« ausbat. Ihr Gesicht trug wieder denselben Doppelausdruck, den es im Café Caesar anzunehmen pflegte.

Adam bestellte flugs ein Exemplar desselben Werkes. Das mußte doch auffallen. Und es schien auch Fräulein Irmer aufzufallen. Sie wandte sich zu ihrem Nachbar um, schlug die braunen ernsten Augen groß auf ... und fragte mit ihnen eine stumme, tiefe Frage, auf die Adam nur eine gleiche, stumme Antwort wußte, die für ihn plötzlich nicht minder tiefen Inhalts war.

Das Werk fand sich natürlich nicht auf Lager. Der Gehilfe erbat sich die Adressen und versprach die Exemplare in spätestens acht Tagen besorgt zu haben.

»Hedwig Irmer – oder senden sie das Buch bitte direct an meinen Vater: Dr. Leonhard Irmer, Herderstraße 7 III ...«

»Danke verbindlichst, mein gnädiges Fräulein – soll geschehen! Und Sie, mein Herr –?«

»Dr. Adam Mensch, Gartenstraße 14 II ...«

Der Herr Doctor erhielt jetzt zwei verwunderte Blicke. Dem Gehilfen schien ein Mensch, der Adam Mensch heißen könnte, bisher unmöglich gewesen zu sein.

Auch Fräulein Irmer war betroffen. Adam gab ihren Blick mit einem diskret-ironischen Lächeln zurück. Die Dame wurde vorwiegend verlegen.

Nun wandten sich die beiden zum Gehen. Adam öffnete die Thür und ließ das gnädige Fräulein zuerst hinaustreten. Dann folgte er schnell.[6]

Er konstatirte, daß seine Nervenschmerzen nachgelassen hatten. »Man muß nur einmal in einer fremden Atmosphäre herumvagabundiren und dem ehrenwerten Corpus ein wenig Abwechslung gönnen: dann machts sich schon –« monologisirte er still vor sich hin. Instinctiv hatte er Fräulein Irmers Spur, wieder aufgenommen. Aber er war doch zweifelhaft. Sollte er noch weiter hinter der Dame hertrollen, wie ein zitternder Gymnasiast hinter seiner in sich hineinkichernden Poussade, hinter seiner »Flamme« – oder sollte er ihr seine »Begleitung anbieten« – oder sollte er wieder umkehren und ruhig nach Hause stapfen –? Was hatte dieses närrische Nachlaufen für Sinn! Uebrigens – die Adresse wußte er ja, wenn er also – – »Herderstraße 7 III.« – – ja! ja! – ach was! – »wenn er« – Unsinn! –

Aber Adam ging noch immer dicht hinter der Dame. Man war allmählich in einen stilleren Stadttheil gekommen.

Plötzlich fand sich Adam an der Seite Fräulein Irmers vor! Er stutzte einen Moment, verstand sich nicht und ... fragte schließlich, indem er etwas linkisch und rathlos den Hut zog: »Erlauben Sie, mein gnädiges Fräulein, daß ich Sie –«

Keine Antwort.

»Verzeihen Sie, mein Fräulein – aber Sie werden unschwer – –«

»Ich verstehe Sie nicht, mein Herr! Was wollen Sie? – Verlassen Sie mich! –«[7]

»Mein Fräulein –!«

»Noch einmal – verlassen Sie mich – ich ersuche Sie dringend – oder ...«

Adam war plötzlich sehr selbstbewußt und trotzig geworden. Er betippte nachlässig seinen Hut, wandte sich ab, ging einige Schritte zurück, stampfte einmal recht erbittert aufs Pflaster und lachte sehr indignirt. Was nun? Er drehte sich noch einmal um. Und es dünkte ihn, als ob Fräulein Irmer recht langsam ginge – zudem – zudem noch gar nicht so besonders weit entfernt von ihm wäre – sollte sie doch – sollte er – – aber nein! – nichts da! – Unsinn! – – – Adam schob sich entschlossen wieder um und wanderte nach Hause. Nach einer halben Stunde stieg er die Treppen zu seiner Wohnung empor. Die Glieder waren ihm schwer und die Schläfen schmerzten wieder heftiger. Und es fiel ihm ein, daß man doch im Grunde kaum Herr seiner Handlungen ist. Plötzlich, im wahren Sinne »unvorbereitet,« hatte er vor einer kleinen Weile vor Fräulein Irmer gestanden. Wie war er an ihre Seite gekommen? Urtheil – Vorstellung – Willensimpuls – Coordinationscentren – Muskelcontraction – – – Alles Blech! Adam wußte nur, daß man einmal ebenso »unvorbereitet« eine ... Waffe in der Hand haben könnte – – und daß man unter Umständen schon nicht mehr sein könnte, ehe man es überhaupt bewußt gewollt hatte. Aber ... aber aus dem Leben gehen, ohne ... Hedwig Irmer – hm! – ohne! – ja! was denn: »ohne?« – ohne –[8] ohne! ... Diese beleidigte Schöne! Sie einmal küssen –? »Küssen«? Pah! Zu geschmacklos! Aber ah! eigentlich stand er doch noch sehr fest im Leben, noch so mitten darin! Und wie sicher er mit beiden Füßen noch auftrat! Wie ihm aus der engen Zone seiner Augenblicksphantasieen heraus das Leben doch noch so ... so ... lebenswerth erschien! Herr Gott! Und nur, weil er heute dieses Weib – dummes Zeug! Er hatte wahrhaftig Ernsteres zu thun, als immer wieder auf derartige U.-S.-W.-Weiblichkeiten 'reinzufallen. –

Grauschwarze Dämmerungsflocken lagen im Zimmer. Es pochte. Die Wirthin erschien, die flammende Lampe in der Hand. Nach einer kleinen Frist: – »Sie sehen recht blaß aus, Herr Doctor –«

»Hm!« –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 2-9.
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