X.

[129] In tadellosem, schwarzem Gesellschaftanzuge; mit einem Gesicht, das halb müde Gleichgültigkeit, halb obligate, gegenstandslose Neugier und Gespanntheit ausdrückte, trat Adam Mensch einige Stunden später in das Cabinet Lydias.

»Sie haben mich gerufen, gnädige Frau – ich bin gekommen ...«

»Ich danke Ihnen, Herr Doctor!«

Lydia hatte bei dem Eintreten Adams vor ihrem zartgliedrigen Luxusschreibtische, der so gar nicht für ehrliche, schwere Arbeit auf der Welt zu sein schien, gesessen und war nun aufgestanden. Ein leiser Moschusduft lag im Gemach. Auf dem Schreibtische brannte inmitten einer Fülle eleganter Nippes, inmitten einer zwanglos und doch geschmackvoll arrangirten Kleinwelt von Statuetten, Photogrammen, Portraits, Goldschnittbändchen, lose durcheinandergezetteltem Pergamentpapier, Muscheln und Steinen, eine grünverhangene Broncelampe. Das mittelgroße Zimmer war von den Schatten anheimelnder Dämmerung durchdunkelt. Die Umrisse der Möbel verschwammen, die Farben und Muster[130] der Teppiche und Decken hatten einen ernsten, schwarzbraunen Ton angenommen.

Lydia hatte die Lampe auf den kleinen, runden Tisch gestellt, der, umgeben von einer Fauteuils-Corona, vor dem Sopha an der gegenüberliegenden Breitseite des Zimmers stand.

»Ich muß doch wohl für etwas mehr Licht sorgen –«

»Wenn ich bitten darf, gnädige Frau ... diese Lichtstimmung ... es ist so poetisch, dieses Zusammenfließen von Hell und Dunkel –«

»Ja? Nun ... dann ... ich habe diese Beleuchtung auch sehr gern ... gerade dieses clair-obscur ... Aber modern ... ›modern‹ ist es doch eigentlich kaum, Herr Doctor ... So mittelalterlich ... so romantisch ... Nun suchen Sie sich bitte einen Fauteuil aus ... und dann will ich den Thee bestellen ... oder ... oder – Emma wird ihn allerdings schon bereitet haben ... aber das thut ja nichts ... sie mag ihn 'mal selbst probiren – ich schlage vor, Herr Doctor, daß wir unsere erste Sitzung mit einem Glase Steinberger Cabinet einweihen – ja ...?«

»Gnädige Frau – ich ... meinetwegen –«

»Jetzt ist er schon so weit, daß er ›meinetwegen‹ sagt!« fiel Frau Lange neckisch ein. »Diese Gnade, lieber Doctor! ... Ich danke Ihnen! ...«

»Ich bitte ... Sie haben mich mißverstanden, gnädige Frau ...«

Lydia schellte. Ein Diener trat ein.[131]

»Also einige Flaschen Steinberger, August, und sagen Sie Emma, sie möchte auftragen.«

»Denken Sie, Doctor, dieser junge Mann, dieser Weinapostel, heißt August – schrecklicher Name ... nicht? Aber er läßt ihn sich nicht abgewöhnen ... diese Leute haben auch ihren Stolz ... Was will ich machen? So sehr ich mich empöre – ich muß mich schließlich fügen. Es bleibt mir nichts Anderes übrig. Und der Mensch ist doch sonst ganz tüchtig und zuverlässig ...«

Adam antwortete nicht. Eine spitze, bittere Bemerkung lag ihm auf der Zunge. Aber er unterdrückte sie. Da klagte ihm eine schöne, vornehme Dame ihr Leid ... ein Leid, das im Grunde wirklich außerordentlich schwer und herb war. Und sie fand es der Mühe werth, an ein Nichts eine ganze Reihe von Worten zu verschwenden. Wußte sie wirklich nicht, daß man sich manchmal noch in ganz ... andere Dinge fügen muß?

»So schweigsam, Herr Doctor? Warum? Nein! ... heute Abend ... heute Abend lieber nicht! ... Melancholisch? Nun ... vielleicht löst Ihnen der Wein die Zunge ... Lassen Sie doch die alten, odiosen Gespenster! Bei meinem Vetter ... neulich ... fiel es mir schon auf, daß ... doch .... hören Sie! Draußen tobt der April! Wir wollen uns recht gemüthlich fühlen ... die letzte, karge Wintergemüthlichkeit ... es wird leider so bald auch außerhalb des Kalenders Frühling ... und dann ...«[132]

»Und dann werden wir auf Ihrem Balkon sitzen, gnädige Frau, und ... und – und werden – –«

»Und werden? Was Sie sich einbilden, Doctor! Doch ... pardon! ... Ja ... ich hoffe auch – Mai ... Juni – nun! Wir wollen uns vornehmen, einen recht intimen Frühling zu verleben ... einverstanden? ...«

»Lydia! ...« Adam war der Vorname Frau Lange's entfahren – er wußte nicht, wie ...

»Dummheit, Herr Doctor! Was fällt Ihnen ein! Wir sind doch zwei ganz vernünftige Menschen! Nicht wahr? ... Was macht übrigens Ihr Bibel-Capitel? ... Nein! Wie mich Ihr hübscher Brief amusirt hat! – Aber was hat die Emma nur?«

Frau Lange schellte zum zweiten Male. In demselben Augenblicke trat das Mädchen ins Zimmer, eine ziemlich umfangreiche Tablette nur mit Mühe vor sich her balancirend.

»Was soll das nur heißen, Emma! Du hast Dir wohl den Thee erst 'mal näher besehen? ... Dazu war doch nachher auch noch Zeit! Und auch der ... der August bleibt mit dem Weine – ich glaube gar, Ihr ... Emma! ... ich will nicht hoffen – – Ihr fliegt alle Beide an die Luft – das kann ich Euch sagen ...«

Emma war roth geworden. »Gnädige Frau ...« stotterte sie –

Adams Auge weilte wohlgefällig auf der vollen, ebenmäßig abgerundeten Gestalt des Mädchens. Das war nicht zu viel und nicht zu wenig. Diese Arme unter dem straffen, enganliegenden Kleide ... diese Brust[133] unter dem wie geschient geschnürten Corset ... dieses frische, volle, nur etwas zu gleichmäßige, zu runde Gesicht ... die Gelenkigkeit der Bewegungen ... der nicht unangenehme Geruch frischgewaschenen, frischgestärkten Leinens, der von ihrer Kleidung ausging –: mit dem Allen war Adam sehr einverstanden. Lydia bemerkte, wie aufmerksam und augenscheinlich wie befriedigt der Herr Doctor das Mädchen musterte.

»Sie sind ein Epicureer, Herr Doctor!« sagte Frau Lange spöttisch.

»Wieso, gnädige Frau? Weil ich für Ihre reiche Tafel kein Auge ... kein Verständniß zu haben scheine? Verzeihen Sie! ...«

»Sie gestehen also? ...«

Emma schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Thür wußte sie sich noch einmal so zu drehen, daß sie einen vollen Blick auf Adam werfen konnte.

»Emma!« rief Lydia laut nach. Das Mädchen trat in den Thürrahmen zurück.

»August mag sich ein Wenig beeilen – und dann bring' die große Lampe aus dem blauen Salon herüber ... Sie sollen Ihre Augen nicht zu sehr anstrengen, Herr Doctor!« fügte Frau Lange, zu Adam gewendet, ironisch hinzu.

Adam und Lydia sahen sich fest an. Sie verstanden sich. –

»Aber ... Sie sind doch noch nicht fertig, Herr Doctor? Ich bitte Sie! Wollen Sie nicht noch 'n Stück Fleisch nehmen? Bitte ... ja! Es ist delicat, wie ich, ohne meine Küche rühmen zu wollen, sagen darf ...[134] Ein Scheibchen Pökelrippe – ja? Oder ein Wenig Dessert? Lassen Sie sich nicht nöthigen! Schlimm genug, daß man selbst Ihnen gegenüber die alten, abgestandenen Redensarten gebrauchen muß! Aber Sie sind gar nicht originell! Sie bilden sich gar nichts auf sich ein! Und – was das Schlimmste ist – Sie vergessen ganz, daß Sie mich beleidigen, wenn Sie mich zwingen, Sie nach der Art des ersten besten Durchschnittsmenschen zu behandeln ...«

»Ich bitte, gnädige Frau! ... Ich habe gar kein Recht, etwas Besonderes scheinen zu wollen, sintemalen ich gar nichts Besonderes bin ... Wenigstens momentan ... In den letzten Wochen, wenn nicht Monaten, bin ich meinem ganzen Denken und Fühlen nach ein verzweifelt alltäglicher Mensch gewesen ... Ich finde nichts Neues mehr ... ich erkenne Nichts mehr ... ich habe keine Interessen mehr ... ich bin gegen Alles grenzenlos gleichgültig ... Alles ist todt, verschüttet, ausgestorben in mir. Ein Druck liegt auf mir – ich sage Ihnen: furchtbar! Ganz furchtbar! Und Nichts ... Nichts reißt mich aus dieser Verstumpfung heraus ... Ich glaube ... ich fürchte: meine beste Zeit ... die Zeit, wo ich geistig aktiv sein durfte ... wo ich für tausend Reize empfänglich war ... wo ich nach allen Seiten hin Anregung gab und Anregung empfing, ist vorüber ... Und ... und gewöhnlich vermisse ich absolut Nichts. ... das ist das Entsetzlichste. Nur manchmal, wie eben[135] jetzt, werde ich mir dieser hagebüchenen Leere und Nüchternheit bewußt – und dann krampft's sich in mir zusammen – ach! ... Varus! Varus! Gieb mir meine Legionen wieder! ...«

Lydia sah den ihr gegenübersitzenden Adam gespannt an. Sie hielt sein Gesicht auch mit dem Auge fest, als August eintrat und den Wein brachte. Frau Lange verstand den Herrn Doctor im Grunde wohl kaum. Aber mit dem feinen Instinkt des Weibes fühlte sie, daß ihr Gast da etwas aus seinem Seelenleben preisgab, was für ihn schmerzliche Wahrheit und Gültigkeit besaß.

»Nun ... nun, Herr Doctor ... in diesem Sinne – – ich wollte durchaus keine Beichte herausfordern ... verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Gelegenheit zu einem Mißverständniß gab ... Bei meinem Vetter übrigens ... neulich Abends ...erschienen Sie mir durchaus nicht so pessimistisch ... haben Sie inzwischen – doch pardon! ... Und ... und damals empfing ich auch den Ein druck von Ihnen, daß man Sie durchaus nicht mit dem ersten besten Strohmann – bewundern Sie nur meine Scatkenntnisse! – mir schien es also, als ob man Sie durchaus nicht für einen Strohmann des Lebens halten dürfte ... Und darum meinte ich vorhin – – ach! ... Wissen Sie übrigens, Herr Doctor, daß ich Ihnen eigentlich ... eigentlich ein Wenig böse sein sollte? Sie –«

Lydia hatte sich erhoben und füllte die Gläser. Dabei sah sie, am Tische diskret eingewinkelt nach[136] vornüber gebeugt stehend, ihren Gast mit einem reizenden Lächeln von der Seite an.

»Böse? Sie erschrecken mich, gnädige Frau! Warum böse, wenn ich fragen darf?«

»Verstellen Sie sich nur nicht! Sie wissen ganz genau, was ich ... was ich ... meine – oder sollten Sie ... sollten Sie? Das wäre doch zu naiv! . Nicht wahr –?«

»Ich bin immer noch rathlos –«

»Vergessen wir den Wein nicht! ... Und nun lassen Sie Ihre Reserve ein Wenig fahren, Herr Doctor – ja? Sie geben sich in der Unterhaltung so ohne Pathos ... so – ich weiß gar nicht ... ich liebe die Force, das Spontane ... das Unberechenbare ... und Sie scheinen doch sonst das Zeug zu haben, ein eigenes Gesicht zu machen ... einen eigenen Menschen vorzustellen – heute sind Sie so conventionell – wie ich schon vor hin sagte ... so ... so ... nun! ... man erwartet gar Nichts von Ihnen ... kurz: heute sind Sie ganz schrecklich, Herr Doktor! ... Was fehlt Ihnen nur –?«

»Mir? ... Nichts ... gar Nichts, gnädige Frau! ... Im Gegentheil: ich fühle mich sehr wohl ... sehr behaglich ...«

»Nun! dann wollen wir 'mal anstoßen – bitte!«

Die Gläser trafen sich, aber auch die Augen. Schlumernde Flammen wurden da geweckt, brachen heraus und züngelten heftig in einander.

»Also ... Sie wissen noch nicht –?«[137]

»Nein! Noch nicht, gnädige Frau –!«

Lydia wandte sich ab. Sie nestelte an ihrer Uhrkette und sah nach dem Schreibtische hinüber.

»Wie geht es eigentlich Fräulein Irmer, Herr Doctor«? fragte sie nach einer kleinen Pause leichthin, ohne Adam anzusehen.

Jetzt hatte der Herr Doctor allerdings verstanden. In seinem Gesicht zuckte es. Und da wandte sich ihm Frau Lange auch wieder voll zu. Sie bemerkte den ironischen Zug um Adams Mund und Nase, bemerkte die etwas zusammengekniffenen Augen. Ein sehr verzweigter, im Ganzen aber doch mehr angedeuteter, als erschöpfend ausgeführter Gefühlscomplex: momentane Wuth ... Haß ... Zorn ... Neid ... drängte sich ihr auf. Dieser Mensch konnte doch zu impertinent, zu moquant sein. –

»Nun?« fragte Frau Lange indignirt.

»Hedwig Irmer, gnädige Frau ...« – Adam setzte absichtlich, mit einer kleinen, unscheinbaren und doch, wie er wußte, nicht wirkungslosen Betonung den Rufnamen voran – »Hedwig Irmer – ja! ... habe ich die Dame denn seitdem – – seitdem? – richtig! ich machte ihrem Vater neulich einen Besuch – und da –«

»Gefällt Ihnen Hedwig, Herr Doctor –?« Frau Lange hatte sich zurückgelehnt und streckte die Hand nach ihrem Weinglase aus. Die wundervolle Plastik des Armes trat berückend hervor. Der Aermel straffte sich zurück, und das volle, runde Handgelenk schimmerte verführerisch auf in seiner[138] frischen, gelbweißen Waizenfarbe. Nun hatte Lydia das Glas zum Munde geführt und blinzelte Adam über den Rand hin an.

»Warum sollte mir Fräulein Irmer nicht gefallen –?« erwiderte Adam spöttisch-nachlässig. »Die Dame hat entschieden etwas sehr Eigenthümliches. Sie scheint auch intellektuell nicht unbedeutend zu sein. – Allerdings! ein Bissel zu viel triste, dürre Abstractions-Philosophie hat sie unter der Anleitung ihres Herrn Vaters wohl doch schon geschluckt. Unmittelbares ... Ursprüngliches geht ihr vollkommen ab. Ich glaube, man muß sich ... man müßte sich erst durch einen dicken Wall von Vorurtheilen und Voreingenommenheiten hindurcharbeiten – ganz abgesehen von der seelischen Schwerfälligkeit, die gar nicht zu brechen sein wird –«

»Hm! ...«

Adam sah Frau Lange an. Sie verstanden sich wieder einmal.

» ... Die gar nicht zu überwinden sein wird ... sein würde – – wenn ... wenn also ein seelisch einigermaßen intimer Verkehr ermöglicht werden sollte. Interessant ist die Dame aber zweifellos. Nun ... es wird nachgerade Zeit, auf Urwüchsigkeit überhaupt zu verzichten. Man hat sie ja selbst längst ... längst eingebüßt – es ist rabbiater Unsinn, sie immer wieder mit Pathos zu fordern und zu erwarten. Wenn man bedenkt, wie bescheiden man eigentlich schon geworden ist! Es ist mitunter rein zum Todtlachen! Das heißt: man wird ... man ist unkritisch geworden.[139] Von welchen kargen, geradezu dämonisch kargen Reizen läßt man sich nur immer wieder ködern und bewältigen! Man studirt und liest und schreibt und plaudert und verkehrt mit Menschen ... man besucht Gesellschaften, treibt sich in Localen herum ... wie gesagt: fast ohne jede Kritik mehr ... ohne sich noch darüber klar zu werden, daß man sich mit dem Allen doch eigentlich furchtbar vor sich selber compromittirt! Gott sei Dank, daß ich kein sogenannter ›Dichter‹ bin! Diesen Leuten sollen ja alle Creaturen auf Gottes Erdboden ... ob sie nun vierbeinig oder zweibeinig oder x-beinig, wie der liebe Hummer, herumlaufen, interessant sein ... Das schwatzt nämlich immer einer von diesen Herren ›Dichtern‹ dem ander'n vor: Du! Höre' mal! Du mußt für Alles Sympathie haben! Du mußt hinter Allem das ›rein Menschliche‹ suchen, wie hinter dem Spiegel das Quecksilber. Stöbere nur – du wirst's schon finden, lieber Freund! Als ob der sogenannte ›Dichter‹ nicht auch geistige Selektionstendenzen besäße! Nein! Es ist oft zum Verzweifeln, wenn man sieht, was für Phrasen heutzutage colportirt werden auf der Welt! – – Schätzen Sie sich glücklich, gnädige Frau, daß Sie von all' dem elenden Wirrwarr, von der colossalen Begriffsverwirrung, die sich allenthalben breit macht, hier in Ihrem schönen buen retiro so wenig, so blutwenig hören! ...«

»Aber Sie wollten ja von Fräulein Irmer sprechen, Herr Doctor ... Sie begannen doch wenigstens in der Tonart – und nun sind Sie wieder einmal ... wieder einmal bei mir angelangt – das ist doch –«[140]

»Wundern Sie sich darüber, Lydia –?« Das hatte Adam halb absichtlich, zweckbewußt, halb unabsichtlich, von seiner Stimmung, seiner momentan auffahrenden Leidenschaft hingerissen, mit leiser, vibrirender Stimme gesprochen.

Die Beiden sahen sich an. Und Adam versuchte, Frau Lange's linke Hand – Lydia saß rechts von ihm auf dem Sopha – zu erhaschen. Es gelang ihm. Lydia hatte sich abgewandt. Sie athmete erregter. Einen Augenblick fühlte Adam die kleine, warme, weiche Hand der schönen Frau zwischen seinen bebenden Fingern. Ein heftiges Begehren durchschüttelte ihn. Er bezwang sich. Und elegant zog er Lydias Hand an seine Lippen. Frau Lange seufzte leise auf und erhob sich.

»Da haben Sie's, Herr Doctor: das Mädchen läßt sich nicht wieder blicken. Es ist unerhört. Nun, ihre längste Zeit ist sie hier gewesen, die Dame. Ich muß doch 'mal selber nachschauen, wo sie eigentlich steckt. Verzeihen Sie – ich bin sogleich zurück –«

»Bitte sehr, gnädige Frau ...«

Lydia verließ das Zimmer. Im nächsten Augenblick öffnete sie noch einmal die Thür von außen und rief ins Cabinet zurück: »Ich hatte ganz vergessen ... die Cigaretten ... wollen Sie sich bedienen, Herr Doctor! – auf meinem Schreibtisch – rechts ... neben dem Couverts-Carton ... steht die Schachtel ... fangen ... fangen Sie nur Feuer –!«

Lydia lächelte berückend zu Adam hinüber.[141] Nur ein kleiner Raum lag zwischen den beiden. Die Beleuchtung war allerdings zu schwach, um die Formen der schönen Frau scharf und deutlich hervortreten zu lassen. Und doch floß ein verführerischer Athem von dieser in der Thüröffnung etwas nach vorn gebeugt stehenden Gestalt zu Adam hin.

»Sehr liebenswürdig, gnädige Frau ...«

Lydia verschwand wieder. Der Herr Doctor hatte sich erhoben. Er fühlte sich sehr behaglich. Er stand einen Augenblick mitten im Zimmer still und dehnte und reckte sich. Ein kleiner Drang zum Gähnen befiel ihn. Aber er unterdrückte ihn tapfer. Das dünkte ihn denn doch zu undankbar. Mit großer Genugthuung sog er die Atmosphäre des elegant-gemüthlichen Cabinets ein. Diese von der matten Beleuchtung mehr durchdunkelte als erhellte Umgebung entsprach sehr intim seinen Bedürfnissen und Neigungen, gebar ihm eine eigenthümlich reizvolle Stimmung. Und das Begehren ward in ihm lebendig, dauernd unter solchen, in sich gesicherten Bedingungen zu leben. Und Lydia? Adam sagte sich, daß er ihrer pikanten, vollen, reifen Frauenschönheit heute Abend zum Opfer gefallen war. Starken Eindrücken war er ja so zugänglich ... wenigstens konnte er sich für eine kurze Zeitspanne ganz von ihnen aufzehren lassen. Nun! Er wollte den Genuß der Stunde auskosten. Wer weiß, was ihm noch bevorstand! Oder sollte er selbst versuchen, mit starker Hand in die Speichen seines kleinen[142] Privatschicksalsrades zu fallen? Sollte er versuchen, mit schnellem, kühnem Griff das an sich zu reißen, was ihm da aus dem Dämmerungsschooße einer, wie es schien, nicht ungnädigen Zukunft blendend entgegengaukelte? Adam war unschlüssig. Er konnte auch nicht anders, als unschlüssig sein. Noch zu amorph, noch zu unklar und verschwommen lag Alles vor ihm. Und gerade die Ungewißheit war es ja, die ihn reizte, die ihm eine pikante Berechtigung gab, Alles zu erwarten, Alles zu erhoffen. Nachher ... nachher, wenn er seinen Sieg oder seine Niederlage erlebt hatte, war er ja wieder in die kalte, schneidende Winterluft seiner radicalen Resignation, seiner brutalen Gleichgültigkeit zurückgestoßen. Doch auf die Dauer war ihm das Klima dieser Eiszone unerträglich. So hatte sich mit der Zeit bei Adam das Bedürfniß herausgebildet, sich allerlei Möglichkeiten zu verschaffen, die seinen Hoffnungen, seinen Erwartungen einen möglichst großen Spielraum gewährten, ... die bei einer günstigen Combination zu Thatsachen werden konnten, welche für sein Leben entscheidend waren ... entscheidend nach der zukunftsichernden, emporführenden, Alles versprechenden Seite hin. Vor der unmittelbaren Prüfung jener Möglichkeiten schrak Adam zurück. Er war nicht kleinlich, nicht feige. Aber nach dem süßen Morphiumgift eines gewissen, nicht besonders merkwürdigen, aber auch nicht gerade alltäglichen, im Uebrigen eigentlich sehr unschädlichen Epicureismus hatte auch schon sein Blut – und[143] war das auffallend? – heißes Verlangen tragen gelernt.

Adam trank sein Glas leer und ging zu Lydias Schreibtisch hinüber. Er betrachtete einige Augenblicke sinnend das kleine, feine, entschieden distinguirte, jetzt nur zu undeutlich beleuchtete Möbel. Nein! Das war Alles viel zu zierlich, das war Alles viel zu geschmackvoll arrangirt, zu feingeistig zusammengeordnet, um mehr, denn eine schöne Dekoration zu sein. Diese engen, flachen Schubkästen waren nur dazu bestimmt, schmale, dünne, discret parfümirte Briefchen, die wohl eine roth- oder blauseidene Schlinge einschnürt, aufzunehmen. Diese kleine, dünne, feuchtbraun glänzende Platte ertrug höchstens den reservirten Druck eines zärtlich-vorsichtigen Frauenarms, duldete wohl gerade nur die Gegenwart eines Briefblattes, auf welches eine schöne, ringblitzende Damenhand allerlei Koseworte, ein schillerndes Wortgetändel, krause Gedankenarabesken niedertropfen läßt ... oder die Gegenwart eines graciösen Goldschnittbändchens, in dem man blättert, um hier einen elegant geformten Satz, dort einen geschmeidigen Reim aufzupicken, oder eine perlende, schillernde Strophe, die leise eine Saite der Erinnerung anschlägt ... eine Saite, die nun verhalten aufklingt ... und in zarten Schwingungen Bilder um Bilder empordämmern läßt ...

An diesem Tische muß eine schöne Frau wunderbar träumen und sinnen und plaudern können ... Plaudern mit den Gestalten ihrer Träume, ihrer Phantasie'n ...[144]

Adam verspürte wirklich Appetit auf eine gute Cigarette. Er bemächtigte sich der Schachtel, die er leicht fand, und ging zum Sophatisch zurück. In demselben Augenblick, wo er den braungelben, krausgeflockten Tabak über der Lampe anzündete, trat Lydia wieder ins Zimmer.

»Mit Ihrer Erlaubnis, gnädige Frau, habe ich also soeben ... soeben Feuer gefangen ...«

»Bravo, Herr Doctor!« Lydia lächelte, aber etwas gezwungen. Unmuth und Aerger lagen auf ihrem Gesicht.

»Wie glücklich sind doch diese Menschen!« ließ Frau Lange jetzt verlauten – »Sitzen die beiden, August und Emma, seelenvergnügt in der Küche zusammen und schwatzen sich tausend Dummheiten vor ... Alles Andere wird ganz gemüthlich vergessen – die Leutchen scheinen rechtschaffen verliebt ineinander zu sein ... Geschmacklos – finden Sie nicht auch, Herr Doctor? Diese dumme Plebejerliebe! ...«

»Geschmacklos – warum, gnädige Frau? Warum nennen Sie das Natürliche ›geschmacklos‹? Und Sie finden doch auch, daß die Menschen glücklich sind! Ja! Ich glaube es beinahe auch: glücklicher sind sie, als Unsereiner ... Sie dürfen so viel ungenirter, so viel zwangloser, unmittelbarer, derber, ehrlicher sein! Allerdings ... für uns ist unter Umständen ja gerade das Unnatürliche ... glücklicherweise das Natürliche ... das Pikante, das Reizende, Anreizende, Schaffende. Ich wenigstens liebe[145] offene Thüren nicht besonders ... Es ist so langweilig, eins zwei drei sein Ziel zu erreichen ...«

Lydia hatte sich Adam gegenüber auf einen Fauteuil niedergelassen und zündete sich jetzt eine Cigarette an.

Es klopfte.

»Herein!«

Emma brachte zwei Flaschen Wein und schickte sich an, das Geschirr abzuräumen. Das Mädchen sah sehr kleinmüthig aus. Adam erhielt einige scheue, unbeholfene Blicke. Lydia schien ganz von ihrer Cigarette engagirt zu sein. Eine peinliche Stille lag im Zimmer. Emma hantirte unsicher, ihre Hände zitterten. Einige Male ließ sie sehr unsanft das Geschirr zusammenklappern.

»Nun schmollt die Dame auch noch –« begann Frau Lange, als das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte.

»Wie haben Sie eigentlich das Rauchen gelernt, gnädige Frau?« fragte Adam in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.

»Wie? Komische Frage, Doctor! So viel ich mich erinnere, habe ich mich diesem abscheulichen Laster schon sehr früh ergeben. Das heißt –: geboren bin ich mit einer Cigarette im Munde gerade nicht ... aber später ... einige Jahre darauf ... in der schönen, schönen Backfischzeit – da rauchten wir Selektanerinnen eben alle ... Ueberhaupt, Doctor, Sie können sich keinen Begriff davon machen, wie ... gescheit so eine ›höhere Tochter‹ schon ist! ... Sie weiß ... sie weiß so[146] Manches, das ... nun! das ... ich will nicht sagen: das sie eigentlich noch nicht wissen sollte – – mein Gott! warum so heucheln, so prüde thun, so vorurtheilsvoll sein! ... aber ... sie weiß doch offengestanden so Manches, was man durchaus nicht erwarten sollte von einer solchen wohlerzogenen jungen Dame ... Wir hatten damals einen kleinen, interessanten ›Amazonenclub‹ gestiftet – sous main! lieber Doctor! ... aber bitte! – schenken Sie meinem Wein ein klein Wenig mehr Ihre Gunst – er ist doch nicht gerade schlecht – Prosit! ...«

Die beiden thaten einen tüchtigen Zug. Unerwartet war durch den offenen, burschikosen Ton, den Lydia angeschlagen, eine frischere, intimere Bewegung in die Unterhaltung geflossen.

»Also Ihr Amazonenclub, gnädige Frau –?«

»Nein! ... Von dem will ich doch lieber stille sein ... Wir haben tolle Geschichten gemacht – weiß Gott! – aber bedienen wir uns nur wieder einmal des bekannten Schleiers der christlichen Liebe –«

»Gnädige Frau! ...« bat Adam sehr eindringlich. Das Thema interessirte ihn aufrichtig. Er hätte zu gern noch einige harmlose Einzelheiten aus sotanem Capitel erfahren.

»Ih! Wie werd' ich denn, Herr Doctor! Und warum Ihre Neugier? Wir sind allzumal Sünder! Also ... später – später verheirathete ich mich. Mein seliger Mann rauchte leidenschaftlich. Er konnte es nicht lassen, obwohl es ihm seiner defekten Lunge wegen der Arzt streng untersagt hatte. Mein[147] Mann sah es gern, wenn Damen rauchten. Er hatte eine große, freie, starke Seele, die anders fühlte, als der Troß der beschränkten Krämer- und Lakaienseelen. Er sah nichts Beleidigendes, nichts Compromittirendes darin, wenn eine Dame ein Wenig selbständig im Denken und Handeln war ... ein wenig ›emancipirt‹, wie man zu sagen pflegt. Schade, daß er so früh gehen mußte ... Nun kommt er nie wieder zurück ....«

Lydia hatte die letzten Worte mit leiser, stockender, zitternder Stimme gesprochen. Sie war sehr nachdenklich geworden, beinahe weich, vielleicht so etwas wie sentimental. Auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck ehrlicher Trauer, eines beinahe zärtlichen Schmerzes. Adam stutzte. Nun wurde er doch verwirrt. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte sich so ganz daran gewöhnt, Frau Lange als ... nun! ... eben gleichsam als jungfräuliche Wittwe zu betrachten ... losgelöst von allen Beziehungen, die ihm etwa peinlich, unbequem hätten sein, die ihm hemmend hätten werden können. Und jetzt bewies diese schöne, verführerische Frau plötzlich die innigste Theilnahme für ihren verstorbenen Gatten. War ihre Trauer echt, ihr Schmerz wahr? Oder coquettirte sie nur? Wollte sie ihn durch diesen schluchzenden Schmerz nur reizen? Oder hatte sie ihren Mann wirklich ... geliebt?

Adam sog noch einmal an seiner Cigarette und legte den mürben, runzligen Rest dann weg.

Lydia fuhr auf. Sie strich sich mit den kleinen,[148] schmalen Fingern der linken Hand über Stirn und Augen, preßte die Hand einen Augenblick gegen die Brust und griff nach ihrem Glase.

»Prost, Doctor! Nun wollen wir wieder vernünftig sein! Was kann das schlechte Leben helfen! Es ist so dumm, ewig mit der Vergangenheit zu ... zu ... nun ... Ihnen kann ich's ja sagen – Sie werden es wohl auch selbst gemerkt haben –: ich habe nur coquettirt! Wahrhaftig! ich habe nur coquettirt! Verlassen sie sich d'rauf! Ich wollte Sie 'n Bissel – was? – Sie glauben mir nicht? Sie unschuldsvoller Engel Sie! Jawohl! Glauben Sie's nur! Ich bin eine ganz herzlose Coquette! Ich bin ein sehr schlaues, listiges, berechnendes Weib! ... Nun thun Sie mir aber den Gefallen – und sehen Sie nicht so – ich hätte beinahe gesagt: nicht so – dumm aus! Pardon! So Etwas ist Ihnen noch nicht vorgekommen? Ja! Ihr Männer! Ihr glaubt immer, Ihr hättet die Originalität allein gepachtet! So'n armes, dummes Weib kann auch 'mal ›genial‹ sein – warum denn nicht? Ihr seid durch die Bank eben so eitel, wie wir! Es ist ja alles ganz gleich: der eine ist 'n Trefle-Bube, der andere 'ne Carreau-Sieben – zu Kartenkunststücken müssen wir alle herhalten ... Lassen wir die Todten ihre Todten begraben! Da haben sie wenigstens Etwas zu thun! O über dieses tiefsinnige Leben! Leben! Leben! Ich lebe! Ich will leben! Ich vergehe vor Appetit auf das Leben! Mein lieber, guter Männe! Nicht wahr – Du bist Deinem kleinen Weibchen nicht[149] böse, wenn es sich noch 'n Bissel amusiren will auf dieser schönen Welt? Nein! nicht wahr? – Du schläfst ruhig weiter und läßt Dich gar nicht stören? Recht so, mein liebes Kerlchen! Wir haben uns ja immer so gut vertragen! Doctor! Wollen wir morgen früh beide nach Italien reisen? Ich halte es unter diesen Philistern hier nicht mehr aus. Aber ... mein Gott! Was sehen Sie mich denn so erschrocken an? Ja, ja! mein Herr! So ... so aufgeräumt ... so offen und burschikos kann Fräulein Irmer nicht sein – wie? oder doch? Das gute, kleine Fräulein! Nächstens muß ich es doch wieder 'mal einladen! Die Dame macht sich nur immer so rar – kommt eigentlich nie ... aber wenn Sie auch hier sind – –«

»Gnädige Frau! ...«

»Na ja, Doctor! ... Was – der Wein ist gut? Ja, ja! Mein Mann hatte eine feine Zunge. Mir ist ganz merkwürdig zu Muthe. Ich sehe plötzlich Alles so unheimlich scharf – das Bedeutende löst sich kräftig heraus – ich komme so unheimlich nahe an die Dinge heran ... weiß gar nicht ... gar nicht – – – haben Sie, Doctor ... wollen wir nicht in dieser Stimmung – – – ganz sonderbar! – haben Sie Nichts – Nichts – kein Gedicht oder so Etwas bei sich? ... Irgend einen Dithyrambus der Freude – ich bin ja jetzt alles Kleine und Enge los – doch richtig! Sie sind ja kein Dichter! Vorlesen? Nein! Nein! Das ist zu abgeschmackt! Musik! Musik! Sie spielen auch[150] nicht? Sie Barbar! Jetzt Beethoven – oder noch besser Wagner – das Vorspiel zum dritten Akt vom ›Siegfried‹ – die Welt ist ja gewöhnlich so eng und schwarz und schwer ... so karg und kümmerlich – aber Doctor –!«

Auch über Adam war es plötzlich mit berauschender Gewalt gekommen. Die tolle, ekstatische Stimmung Lydias hatte ihn angesteckt, entzündet, hatte ihn mitfortgerissen, träge, unbeholfen zuerst, nachdem sie ihn anfangs beinahe angewidert, zurückgeschreckt hatte, nachdem sie ihn sehr ironisch und spottlustig gestimmt – nachher aber unwiderstehlich ... Nun jagte er hin, und der Taumel war in ihm. Der Wein ebnete den Weg, minderte die Reibung, glättete die Geleise.

Da hatte sich Adam von einem elementaren Zwange packen lassen müssen. Es stieß ihn wie mit einer übergewaltigen Faust von seinem Fauteuil herunter und warf ihn vor die Füße Lydias. In diesem Augen blicke liebte er das Weib fanatisch. Sein Denken war ausgelöscht, sein ganzes Ich ein einziges großes, dämonisches Gefühl ... ein einziges aufdampfendes Begehren. Adam hatte den Kopf in Lydias Schooß gelegt und schluchzte, seine Arme hingen schlaff herab.

»Aber Doctor –!« hatte Lydia mit unnatürlich leiser, halberstickter Stimme hervorgestoßen und mit jähem Rucke aufspringen wollen.

Adam richtete seinen Kopf empor ... langsam, fast feierlich, beschwörend. In seinen verthränten[151] Augen lag die heiße Bitte, ihn nicht hinwegzustoßen. Lydia löste jetzt sanft ihren rechten Arm frei und strich leicht, lind, mit liebkosenden Fingern über Adams Haar. Der aber erbebte mächtig unter dieser weichen, zärtlichen Berührung.

Im Zimmer war es still. Nur das Licht der Lampe surrte leise ... und ungleich, heftig hastete der Athem der beiden Menschen, die, ganz hingenommen, ganz berauscht von ihren verworrenen Gefühlen, eine kleine Weile in eng zusammengeschmiegter Gemeinschaft beieinander waren. Zu dieser Zeit waren beide gut, besser, denn sie je gewesen. Alles, was das Leben in ihnen verzerrt hatte, war ausgeglichen. Fülle und Kraft lebte in ihnen, Hoffnung, Sehnsucht, Erwartung und eine mächtige Gespanntheit aller Sinne und Gefühle.

Nun richtete Lydia das Gesicht Adams mit discretem Nachdruck zu sich empor.

»Steh auf, Adam! Wir waren einen Augenblick zwei dumme, thörichte Kinder – jetzt wollen wir wieder vernünftig sein – ja? Komm! –«

»Lydia! ...«

»Na, was denn, Herr Doctor? Ich weiß gar nicht – – lassen Sie mich! Bitte – na? ...« Die Worte waren mit zweideutiger Betonung gesprochen. Es schien Frau Lange halb und halb mit ihrem Abwehren ernst zu sein ... und doch war ihr vielleicht eine drängende, stürmische, beharrliche Zärtlichkeit Adams noch mehr willkommen.

»Lydia!« bat Adam noch einmal, dringend,[152] inständig ... vielleicht besaß seine Stimme auch einen Stich ins Drohende. Und doch hatte der Gefühlstumult in seiner Brust schon bedeutend an Stärke und Energie eingebüßt. Die gemacht naiven, zudem, wie es ihn dünkte, nicht spottlosen Worte der schönen Frau hatten Adam etwas ernüchtert. Zugleich aber war ihm, wenn auch kaum in scharfen Bewußtseinslinien, der kluge Gedanke gekommen, die Situation, die sich ja nun einmal in Scene gesetzt hatte, nach Kräften auszunützen ... natürlich soweit er das unbeschadet seiner Mannesehre thun durfte.

»Stoß' mich nicht von Dir, Lydia! Ich gehöre ja ganz Dir – nur Dir allein! Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr und habe keine Heimath mehr ... Lydia! Ich liebe Dich grenzenlos –«

Unwillkürlich war Adam doch wieder wärmer, ehrlicher, natürlicher geworden. Da lag er in einem eleganten Cabinet zu den Füßen einer schönen Frau ... und er durfte die Kleider dieser schönen Frau berühren ... ihre Hände, ihre Arme ... er fühlte ihren wärmeren Athem, er fühlte ihre heftig auf und nieder gehende Brust – ja! ja! er liebte dieses Weib ... er begehrte es ... er lechzte nach seinen Küssen – es riß ihn unaufhaltsam in die Arme dieser Frau – dieser – dieser – –

»Lydia!« schrie er noch einmal auf – –

Frau Lange schien nachgeben zu wollen. Sie lehnte sich einen Augenblick wie gebändigt, wie besiegt, gegen die Rücklehne des Fauteuils –[153] Adam sprang auf – – nun schnellte auch Lydia empor – – die beiden standen sich hart, eng gegenüber.

»Herr Doctor –!«

Aber noch gab Adam die Partie nicht verloren. Diese Frau trotzte ihm. Seine ganze, widerspenstige, zu despotischem Imperium geneigte Natur brach nun durch. Und doch ließ er sich nicht völlig von seinem Zorne, seiner Wuth hinreißen. Ein unklares Gefühl sagte ihm, daß eine gewisse sentimental-nachgiebige Zurückhaltung sehr wirksam sein müßte.

»Glaubst Du mir nicht, Lydia? – Habe ich das verdient –?«

Frau Lange schwieg, sie war einige Schritte nach rechts, mehr nach dem Innern des Zimmers zu, getreten.

»Sie sind ein großer Phantast, Herr Doctor!« nahm sie nun das Wort. »Sie bilden sich ein, daß Sie mich ... mich ... ›lieben‹, wie Sie sagen – weiter Nichts als Einbildung, mein Herr! Wir haben beide unser'n Stimmungen nachgegeben – wir haben uns überrumpeln lassen – wir haben einen Augenblick geträumt – vielleicht auch ... ganz schön geträumt – nun lassen Sie uns aber wieder wach sein – wir wollen ein fettes Punctum hinter diese Scene machen – und wir wollen sie alle beide so schnell als möglich vergessen –«

Adam wandte sich ab. »Herzlos!« knurrte er in ehrlicher Entrüstung, im Zwange eines ernsten, redlichen Schmerzes, durch die Zähne.[154]

»Adam!« fuhr Lydia auf. Der schnellte jählings um. Sollte doch noch Hoffnung sein? ... Sollte er heute Abend doch noch zu einem ... hm! ... zu jenem – Ziele kommen ... zu jenem unklaren Ziele, das er zu erreichen ersehnte ... das ihn lockte ... und vor dem er doch zurückschrak? – Leidenschaft und Berechnung stritten in seiner Brust. Aber er beherrschte sich. Er nahm eine nachlässige, ironische Haltung an. Die Hände lehnte er hinter dem Rücken gegen die Tischplatte und kreuzte die Beine.

»Gnädige Frau –?«

»Es ist genug –«

Lydia ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Dort stand sie, Adam abgekehrt, eine Weile starr, bewegungslos, wie in einen tiefen Strudel tumultuarisch ringender Gedanken und Gefühle hinabgezogen.

»Sie erlauben mir noch eine Ihrer köstlichen Cigaretten, gnädige Frau –?«

Lydia wandte sich langsam wieder um. Sie war sehr bleich. Von der Nase zum Munde herunter zog sich eine scharfgeschnittene Falte, wie ein Signal bodenloser Verachtung.

»Bitte sehr, Herr Doctor!« Die Stimme klang müde und höhnisch zugleich.

»Sie sehen, gnädige Frau ... das Feuerfangen ist gefährlich ... und ... und ... undankbar ...« stichelte Adam – »aber es wird Zeit, daß ich mich aufmache ...« fuhr er fort und zog seine Uhr – »Sie sind müde von den ... den Anstrengungen des[155] Abends – und es geht stark auf Mitternacht ... Gestatten Sie darum, daß ich mich empfehle. Und verzeihen Sie in Gnaden dem reumüthigen Sünder! Ich danke Ihnen für die schönste Stunde meines Lebens, verehrte Frau – sie wird mir unvergeßlich bleiben. Ich habe nicht umsonst gelebt, da ich einmal – doch pardon! Und nun geben Sie mir Ihre kleine, süße Hand zum Abschied – ja? Ich bitte –«

Lydia stand einen Augenblick unbeweglich. Dann streckte sie Adam langsam ihre rechte Hand entgegen. Der zog diese entzückende, nur jetzt etwas schweißfeuchte Hand galant an seine Lippen und küßte sie.

»Und nun gute Nacht, liebe, gnädige Frau ... doch ... ach ja! was wird ... was wird nun aus unserer modernen Bibel –? Soll sie für immer – ungeschrieben bleiben ... oder ...?«

»Nun ... wir haben ja heute Abend ... wir haben ja ein Capitel aus ihr – erlebt ... renken Sie's ein, Herr Doctor, und ... und bringen Sie's mir gelegentlich ... ich bitte darum ... für die Zukunft dürfte es sich allerdings kaum empfehlen – –«

Lydia versuchte ihre Worte in einem leichten, harmlos-liebenswürdigen Tone vorzubringen. Aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Ihre Stimme klang unsicher, hart, etwas heiser, verwalzt.

»– dürfte es sich kaum empfehlen, daß wir wieder so ... so plastisch verfahren, wie es ... leider heute der Fall gewesen,« ergänzte Adam – »seien Sie unbesorgt, gnädige Frau! . Aber ... wenn Sie[156] die Gelegenheit dazu ganz aus der Welt geschafft wissen wollen – so überlassen Sie doch bitte das Motiv mir allein – ich werde mir wahrhaftig alle Mühe geben, ein wahnsinnig schönes Buch zu Stande zu bringen – und dieses wahnsinnig schöne Buch, gnädige Frau – nicht wahr? – ich darf es Ihnen nachher widmen –?«

»Sie tragen immer Siebenmeilenstiefel, Herr Doctor ... gewöhnlich geht doch Alles viel langsamer auf der Welt – warum denn nur immer so stürmisch –?«

Frau Lange hatte das »immer« auffällig betont. Adam stutzte.

Ah! Nun verstand er! »Ja! ...« erwiderte er mit süffisant-melancholischem Tonfall, »der Eine klappert schwerfällig mit Pantoffeln durch's Leben ... der Andere durchsaust das reizende Dasein auf einem Bicycle. Da hat nun ein Jeder so seine Art, so seine kleine Methode ... Verzeihen Sie noch einmal mein ... mein ... nun! mein Bedürfniß, zuweilen sehr offen ... sehr wahr zu sein, Lydia ... unpraktisch offen ... unangenehm wahr. Aber vielleicht haben Sie auch darin Recht: dieses Bedürfniß ist wohl auch weiter nichts, als – Einbildung. Und nun – gute Nacht –!«

»Gute Nacht –!«

Adam verließ schnell das Zimmer. Als er den Corridor betrat, kam August, der schon gewartet zu haben schien, langsam auf ihn zugestapft. Ein Zug des Unwillens, des Verdrusses, stand auf seinem Gesicht. Mit Mühe unterdrückte er das Gähnen.[157] Der Herr Doctor fühlte sich von der plumpen Geschmacklosigkeit dieser rüden Lakaienpflanze sehr peinlich berührt.

Der Diener geleitete ihn durch das Vorhaus zur Thür. Adam fröstelte es. Er schlug den Rockkragen in die Höhe.

»Gute Nacht, Herr Doctor!«

»Gute Nacht!« Eine Sekunde vorher noch das obligate Verdrücken eines Silberlings. Nun donnerte dumpf krachend die schwere Thür hinter ihm zu. –

»Hallali! Jetzt seid Ihr wieder einmal aus einem Paradiese vertrieben, Monsieur!« – sprach zu sich selber der einsame Mensch, der da durch die kühle, windige Frühlingsnacht hinschritt. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 129-158.
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