VI.

[84] »Ah, lieber Doktor! Das ist ja famos von Ihnen, daß Sie sich wieder 'mal sehen lassen! Nun – wie gehts Ihnen? Viel gearbeitet? Aber Sie schauen immer noch sehr angegriffen aus. Wie wäre es heute mit der Revanchepartie? Hätte Lust – Sie auch – ja ...?«

Herr von Bodenburg hatte den »Figaro« aus der Hand gelegt und stocherte mit dem Löffel auf ein Stück Zucker los, das er soeben in seinen Kaffee geworfen. Er sah erwartungsvoll zu Adam Mensch auf.

»Verdammt windig heute. Bei einem Haar wäre mir mein Hut in irgend 'n Weltmeer oder in 'ne Pfütze geflogen ... Macht der Krakehler von Frühlingswind Aufhebens! ... Impertinenter Stachelbursche! ...«

Herr von Bodenburg lächelte.

Adam warf sein Cigarrenetui auf den Tisch und rückte sich einen Stuhl zurecht.

»Viel Zeit habe ich gerade nicht – wollte auch ein paar Zeitungen durchfliegen – bringt der ›Figaro‹ etwas Interessantes? Ach! die leidige Gewohnheit! Man büßt wahrhaftig nichts ein, wenn[85] man das Zeug 'mal 'n paar Wochen nicht ansieht. Alles Einbildung und Gewohnheit! So schleppt man eben die Tage hin. Man läßt sich immer wieder von seinen tristen Bedürfnissen überrumpeln. Es ist geradezu tragisch, daß der Mensch so im Zwange des Trägheitsgesetzes steht. Ja! Wenn dieses retardirende Moment nicht wäre – die Menschheit – Sie wissen, wen ich meine – müßte entschieden ein kleines Stück weiter sein. Daß es zum Beispiel noch sogenannte ›Fürsten‹ giebt! Unsereiner faßt sich an die Stirn – müssen denn einzelne Individuen so unheimlich weit voraus sein? Diese Differenz! Oder nehmen Sie die Pyramide von Cheops. Sie kennen doch die Saga von Cheops' Töchterlein? Nicht? Werde sie Ihnen gelegentlich 'mal erzählen. Pikant! sage ich Ihnen. Also dieser krystallisirte Despotismus – – so und so viel Tausende von Jahren alt – und heute? Denken Sie an Rußland. Ja! ja! der Hunger und die Peitsche. Man möchte sich vor tragikomischem Weltvergnügen manchmal in einen Böcklin'schen Meergreis verwandeln –«

»Die Gallensteinablösung war nicht übel, Herr Doctor – aber ich möchte doch vorschlagen, daß wir – pardon! – nun – wenn auch gerade nichts ›Vernünftigeres‹, so doch ... na! so doch etwas Amu–santeres vornähmen – also wie wäre es mit der Revanche? Wollen Sie? Kommen Sie! Ja?«

»Meinetwegen denn, Herr Referendar, warum auch nicht? Wenn Sie durchaus wollen! ... Aber – – jetzt ist es dreizehn Minuten nach Drei[86] – ich möchte so gegen Vier wieder auf meiner Bude sein! Möglich, daß ich Besuch kriege – wenn nicht – ich muß mal wieder ein paar Stunden concentrirt arbeiten ... In den letzten Tagen viel freiwillig und unfreiwillig gebummelt ...«

»Kellner! Das Schachbrett ...«

»Jawohl!«

»Was trinken Sie, Herr Doctor?«

»Was? Ja – – ach! Kaffee? – Nee! Bringen Sie mir 'n Absynth!«

»Sehr wohl!«

Die beiden Herren vertieften sich in ihr Spiel. Es wurde nicht viel gesprochen. Adam spielte auch heute mit sehr getheilter Stimmung. Er wußte die Schwächen des Gegners nicht zu gebrauchen, er übersah seine eigenen Vortheile. Mit großem Behagen dagegen schlürfte er seinen kupfergrünen Absynth.

»Kennen sie einen Referendar Oettinger, Herr von Bodenburg?«

»Oettinger? Oettinger? Ja wohl! Sehr patentes Individuum – nicht? Elegant – Cavalier – Lieutenantsscheitel – langweilige Visage – ja! ja! – bin ihm gelegentlich 'mal vorgestellt – scheint mir nicht besonders viel los zu sein mit dem Herrn. Kann mich allerdings auch irren. Was ist mit ihm? Haben Sie 'n Rencontre mit ihm gehabt? Kartell schleifen? Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Doctor!«

»Sehr liebenswürdig, Herr Referendar!« Adam lächelte discret. Dabei goß er seinem Absynth einen[87] neuen Wurf Wasser zu. Das Getränk schaute jetzt asbestgrün aus. »Bis zur Forderung direct kam es nicht. Ah pah! Komödianterei! Wäre noch besser! Wir begegneten uns nur neulich in einer Abendgesellschaft – waren beide zum Souper geladen. Ich war wieder einmal nolens volens etwas bissig – Gott! die Affäre verlief sehr drollig. Auf dem Nachhausewege erklärte mich der Biedermann für einen famosen Menschen – sprach den Wunsch aus, demnächst 'mal Sekt mit mir zu kneipen – der Knabe war allerdings schon stark angebohrt. Er schwankte sehr hingebend und gab eine merkwürdige Vorliebe für Häuserwände und Laternenpfähle zum Besten ...«

»So! ...«

»Ich dachte, Sie kennten den Herrn zufällig näher. Es wäre ja möglich gewesen. Der gute Mann entwickelte bei Tisch seltsam praehistorische Ideen ... ich war zuerst ganz verblüfft. Und sein Standpunkt zur Religion – – es ist eine Schmach, daß dieses Gesindel, das geistig noch auf der primitivsten Entwicklungsstufe steht – daß diese ordinäre Sippschaft – diese Larven und Marionetten, diese Hohlhänse überhaupt Gelegenheit haben, öffentlich Proben ihrer approbirten Bornirtheit abzugeben! Und eines Tages gehört dieser Lumpenbagage womöglich noch höchst persönlich den sogenannten ›leitenden Kreisen‹ an! Ich verstehe den schreienden Unsinn – diese sociale Barbarei nicht!«

»Ereifern Sie sich nicht so furchtbar, Doctor![88] Lassen Sie doch die guten Leute! Lieber Himmel! Ich habe auch noch 'n ganzes Rudel derartiger vieilleries auf Lager ... Das spart man sich so zusammen mit den Jahren ... Und wenn Sie ehrlich gegen sich sein wollen –: Sie haben nicht minder Ihre Zöpfe und Vorurtheile! ... Uebrigens gardez!«

»Gott sei's geklagt – ja! ich weiß – ja doch! – meinetwegen! – also gardez! haben Sie mir – aber was zu stark ist, ist zu stark! Man darf schlechterdings nicht zu sehr in Schimmel und Grünspan verliebt sein ...«

Da öffnete sich die Thür, und Fräulein Irmer trat in's Café. Der Zeitungskellner lief nach dem Schränkchen in der hinteren Ecke des Lokals, in welchem die ausgespannten Nummern vom Tage vorher aufbewahrt wurden. Nun überreichte er der Dame das Blatt.

Adam hatte Hedwig scharf fixirt. Als sie sich umwandte, hinauszugehen, nachdem sie diesmal mit einem kurzen, leise hingeworfenen Dankeswort die Zeitung in Empfang genommen, streifte sie Adam mit einem jähen, vorüberschießenden Blicke. Sie schrak ein Wenig zurück. Adam lächelte befriedigt. Hedwig hatte die Thür zugeschlagen.

Der Herr Doctor sprang auf, zog hastig seine Börse und warf das Geld für den Absynth auf den Tisch.

»Nanu!?«

»Verzeihen Sie, Herr Referendar! Dispensiren Sie mich, bitte, heute – ja? Diese Dame –[89] Kellner! – ich traf sie neulich Abend dito bei dem bewußten Souper – wo bleibt nur der Mensch? – Kellner! – sie spielt in die Geschichte hinein, die ich Ihnen vorhin – – –«

»Danke sehr, Herr Doctor!« Fritz strich das Geld ein und schickte sich an, beim Anlegen des Ueberziehers behülflich zu sein.

»– Die ich Ihnen vorhin von Herrn Oettinger erzählte – muß sehen, daß ich das Weib abfange – lauter kleine Historien – ich bitte noch einmal um Verzeihung – vielleicht morgen, wenn Sie – um dieselbe Zeit – ja? – aber ich muß mich beeilen – auf Wiedersehen, Herr Referendar –«

Adam stürmte hinaus.

»Das ist verdächtig, Herr Doctor –« rief Bodenburg indignirt-belustigt dem Flüchtling nach.

»Na! bringen Sie mir auch noch 'ne Karaffe Absynth –« wandte er sich sodann an den Kellner, der noch immer in der Nähe des Tisches stand und sich jedenfalls alle Mühe gab, die Situation zu begreifen. Er hatte ein blödsinnig-schläuliches Gesicht aufgesteckt.

»Noch ein Absynth –? Sehr wohl!« – –

Adam hatte sich in die unmittelbare Nähe Fräulein Irmers zu machen gewußt. Er war erregt, sein Gang nicht ganz sicher, mechanisch sprach er immer wieder allerlei Phrasen in sich hinein, mit denen er Hedwig, auf den Leib rücken wollte. Als er bemerkte, daß die Dame durch verschiedene, an sich kaum auffällige, aber doch unwillkürlich für[90] Adam deutlich wahrnehmbare Zeichen der Unruhe auf seine Gegenwart reagirte, wurde er ruhiger, ärgerte er sich über die kindische Unsicherheit, erinnerte er sich der Stunden, wo er sich in seiner Gleichgültigkeit so stark, so ruhig und unverwirrbar gefühlt hatte ... und freute sich über den Strom von psychischer Elektricität, der zu dieser Frist von ihm zu Hedwig ... und von ihr zu ihm zurück fluthete.

Nun bog Fräulein Irmer in eine Nebenstraße ein, die viel Vornehmes, Stilles, Reservirtes, Selbstgenügsames besaß. In den kleinen Gärten vor den Häusern, die zumeist Villenanstrich hatten, sah es peinlich sauber, regelmäßig, sehr leer aus. Man hatte das Gefühl, als müßten es die Bewohner dieser Straße unter ihrer Würde halten, der Außenwelt die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Man war einander fremd und nahm mit sich allein fürlieb. Es mochte in Wirklichkeit kaum so sein. Aber diese menschenlosen Fenster mit den eleganten, kalten Vorhängen; diese großen, schweren, massiven, mit stolzer Selbstverständlichkeit geschlossenen Thüren; diese aufdringlichen und doch zugleich unsäglich discreten Namenschilder; die natürliche Leblosigkeit der Vor- und Zwischengärten: das Alles gab der Situation den Ausdruck innerer Leere und Theilnahmslosigkeit.

Adam war an die linke Seite Hedwigs getreten. Fräulein Irmer vollzog unwillkürlich einen kleinen Schritt nach rechts und sah ihren Verfolger finster, zurückweisend an. Die über der Nasenwurzel[91] zusammengewachsenen Brauen waren dicht an die Augenlider herangezogen.

»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, daß ich so kühn bin, mich zum zweiten Male auf offener Straße Ihnen zu nähern. Nehmen Sie, bitte, heute meine Begleitung an. Ich möchte Sie – ich fühle das Bedürfniß – Sie erinnern sich der kleinen ... der kleinen Scene, die sich neulich Abend zwischen uns abspielte – – vergeben Sie mir meine eigentlich unverzeihliche Dreistigkeit – ja? ...«

Die ersten Worte dieser Ansprache an das Opfer seiner neulich bei Herrn Traugott Quöck improvisirten Liebeserklärung waren Adam sehr glatt und sicher abgeflossen. Dann hatte sich die Stimme doch ein Wenig eingeklemmt, war ein Wenig leiser, stockender geworden, war gleichsam gestolpert und hatte erst am Schluß wieder mühelose Beweglichkeit und die intime Färbung der Aufrichtigkeit gewonnen.

Hedwig schwieg. Die beiden gingen eine kleine Weile schweigend neben einander. Oefter sah Adam Hedwig von der Seite an, fragend, bittend, doch zugleich auch merkwürdig amüsirt – und dadurch ganz tüchtig ironisch gestimmt.

»Fräulein Hedwig – haben Sie kein Wort für mich –?«

»Mein Herr –!«

»Hedwig –!«

Das klang bestimmt, dringend, entrüstet, aber auch flehend, ein ehrliches Betrübtsein verrathend.[92]

»Ich verstehe Sie nicht –«

Adam fuhr auf. Er stampfte mit dem rechten Fuße indignirt auf den Boden und gab sich sehr ungesammelt. Mit nervöser Hast knöpfte er an seinen Handschuhen herum.

»Sie wollen mich nicht verstehen, mein Fräulein! Heiliger Nepomuk! Giebt es denn heute auf Gottes Erdboden keinen Menschen mehr, dem man zwanglos, dem man unmittelbar begegnen darf – dem man so gegenübertreten kann, wie es Einem gerade ums Herz ist – wie man gerade Stimmung hat? – Ist denn heute das kleinste Bißchen Unmittelbarkeit verpönt? Soll man Nichts – gar Nichts improvisiren dürfen? – Soll man immer wieder erst die chinesische Mauer der dummen, urdummen conventionellen Redensarten zwischen sich und seinen Nächsten schieben – soll man auf Niemanden mehr stracks losgehen? Fräulein Hedwig –«

»Mein Name ist Irmer –«

Adam lachte aufgeräumt. »Bon! Irmer! Sehr liebenswürdig, mein gnädiges ... Fräulein ... Irmer ...«

»Mein Herr!«

»Lassen Sie doch endlich einmal einen anderen Ton zwischen uns aufkommen!« bat Adam, einen neckisch-vorwurfsvollen Accent in der Stimme. »Aufrichtig, ich ertrage das nicht länger! Sie kennen mich noch nicht. Sie wissen noch nicht, daß ich ein sonderbares Gemisch von ... von Naivetät und ... und Raffinement bin. Vielleicht coquettire ich auch[93] schon zu sehr mit dem Bewußtsein, daß ich coquettire – vielleicht bin ich in natura ... meerschendeehls – pardon! – also sehr oft viel ehrlicher und wahrer, als ich mir einbilde. Ich interessire mich nun einmal für Sie. Sehr sogar! Sehr! Vielleicht bin ich auch schon ehrlich verliebt in Sie – weiß der Teufel! – liebe Sie womöglich schon hagebüchen leidenschaftlich – – aber, Hedwig – ein Geständniß – verzeihen Sie! – aber ich kann nicht anders – ich muß es Ihnen doch zum Besten geben – also: ich bin so grenzenlos egoistisch, daß ich vollständig zufrieden bin, wenn ich durch ein tieferes Interesse, durch eine heftigere Neigung für ein weibliches Wesen, vielleicht sogar durch eine stürmische Leidenschaft, an mir selbst eine Steigerung meines Ichs erfahre – auf Erwiderung meiner Gefühle rechne ich eigentlich gar nicht – ich bedarf ihrer gar nicht – – ich will nur Gelegenheit und Möglichkeit haben, mich auch nach dieser Richtung hin auszuströmen, so wie ich mich auch in jeder anderen Beziehung, als fanatisch auf Unabhängigkeit und Selbständigkeit Versessener, vollkommen zwanglos, ungehemmt, rücksichtslos ausleben will ... Verstehen Sie mich, Fräulein Hedwig –?«

»Ich denke! Aber was soll das mir –? Warum sagen Sie das mir –? Darin verstehe ich Sie allerdings nicht –«

»Warum ich Ihnen das sage, Hedwig? Nun, ich denke: das ist doch einfach genug. Ich gestand Ihnen schon: Sie interessiren mich. Aber Sie sprechen[94] nicht allein zu meinem Blute ... nicht allein – offen heraus: zu meiner ... meiner Sinnlichkeit. Ich bin, wie gesagt, ganz offen, Fräulein Irmer. Ich weiß absolut nicht, warum man das nicht sein dürfte. Wenn zwei Menschen, die sich bis dato fremd waren, zusammentreffen, so sollten sie immer sogleich Wesensfragen stellen. Und um so eher, wenn sie merken, daß sie nicht ganz alltägliche Waare sind. Ich liebe die Ueberraschungen über Alles. Und da ich Sie leider nicht damit überraschen kann, daß ich Ihnen irgend ein außergewöhnliches Geschenk machte, Ihnen z.B. einen ausgestopften Hummer verehrte, oder etwas Aehnliches, so lassen Sie mich Sie doch damit überraschen, daß ich Ihnen allerlei curiose Geständnisse mache, welche das Fundament meiner Persönlichkeit angehen ... daß ich Ihnen allerlei Intimes aus meinem Seelenleben erzähle ... Ich muß allerdings bemerken, daß ich jenem Motive der Wesensfragen gegenüber zumeist leider auch nur Theoretiker bin – in Wirklichkeit bin ich schon viel zu gleichgültig und zu verschlossen und zu selbstgenügsam, um sotane ›Wesensfragen‹ noch zu stellen ... Manchmal fahre ich wohl den Ersten Besten unverhofft damit an und verblüffe ihn. Mein Gott! Warum soll man zuweilen seinem ›Nächsten‹ nicht ein Fläschchen Salmiakgeist unter die Nase halten? Aber Ihnen gegenüber, Fräulein Hedwig, hatte und habe ich jetzt noch das Gefühl, daß ich Ihnen mit Fug und Recht sogleich in der ersten Zeit unserer – Sie gestatten mir den Ausdruck! – also unserer Bekanntschaft Dies[95] und Das erzählen darf, was Wesenhaftes meiner Natur ausmacht. Ich sagte Ihnen schon: ich bin ein monströser Egoist. Aber ich glaube beinahe, daß ich doch so intensiv für Sie aufflammen könnte – vielleicht schon aufgeflammt bin – daß ich mich selber vergäße und mir in Folge dessen mit Grazie und Würde einbildete, daß ich mich ganz von Ihnen hätte auffress – pardon! das fährt Einem immer so 'raus! – Na ja! Und so weiter – Sie wissen schon .... Dabei – hm! also dabei würde es mir, vermuthe ich wenigstens, schließe ich wenigstens aus erlebten, praktisch erfahr'nen Analogie'n, immer noch sehr gleichgültig sein, ob Sie mein Feuer, meine Leidenschaft erwiderten, oder nicht. Ich glaube in Ihnen einen in manchen Punkten wesensverwandten Menschen gefunden zu haben. Lassen Sie uns ein Stück unseres Weges zusammengehen! Behalten wir uns wenigstens im Auge! Lassen Sie uns natürlich mit einander verkehren – sprechen und denken und fühlen wir nach Kräften unmittelbar! Mein Gott! Ich weiß gar nicht, was uns daran hindern sollte, wenn wir erkannt haben, daß diese köstliche Zwanglosigkeit und Natürlichkeit allein unserer würdig ist, weil sie uns congenial ... weil sie uns in jeder Beziehung entspricht ...«

Hedwig schwieg zu dieser prachtvollen Auseinandersetzung. Sie verstand sie, wenigstens im Großen und Ganzen, und mußte Manchem darin zustimmen. Sie constatirte auch mit einer gewissen inneren Befriedigung eine starke Geistesverwandtschaft[96] zwischen diesem kühnen Herrn Doctor und sich. Und doch sträubte sie sich, laut zu äußern, wie sympathisch sie sich ganz unten auf dem Boden ihres Ichs berührt fühlte. Vielleicht war sie durch die Einsamkeit, in der sie mit ihrem Vater jahrelang gelebt, innerlich auch schon zu versteift und verhärtet, um für Dialektik noch die gehörige Geschmeidigkeit des Geistes zu besitzen.

So fügte Adam nach einer Weile, während welcher sie schweigend neben einander hergeschritten waren, hinzu: »– Darauf kommt es ja auch gar nicht an, was man ist, sondern darauf: wie man das ist, was man ist ...«

»Wollten Sie nicht einmal meinen Vater besuchen, Herr Doctor?«

Die Frage klang liebenswürdig, einladend. Unwillkürlich münzte sie Adam zur zustimmenden, Verständniß und verwandte Anschauung verrathenden Antwort auf seine Auseinandersetzung um. Er freute sich darüber, aber, merkwürdig und erklärlich zugleich, veranlagte ihn diese Frage zu einer gespreizt-höflichen Erwiderung: »Gewiß, mein gnädiges Fräulein! Ich werde mir mit Ihrer Erlaubniß demnächst die Ehre geben –«

Hedwig sah ihren Begleiter wegwerfend von der Seite an.

Adam fing den Blick auf und erklärte ihn sich. Er lächelte.

»Hedwig!«

»Herr Doctor –?«[97]

»Geben Sie mir den Arm – ja –?«

»Ich danke! Ich gehe so freier –«

»Gefühl ... Verständniß für Freiheit – das Bedürfniß derselben sind gewiß große, schöne, bedeutende Dinge ... Aber man darf eine Passion nicht in äußerliche, kleinliche Pedanterie'n und Willkürlichkeiten zersplittern –«

»Ich bin übrigens sogleich zu Hause –«

»Hedwig! Wollen wir uns denn immer so fremd bleiben? . Ich habe Geduld, unter Umständen viel Geduld – aber ich bemerkte Ihnen schon–: ich muß zeitweilig sehr despotisch sein –«

»Ich bitte, Herr Doctor –«

»Sind Sie mir noch böse von neulich? – Ich handle immer nur aus dem Rahmen meiner Stimmung heraus –«

»Darüber brauche ich wohl nicht zu reden. – Aber hier sind wir ... Adieu!«

»Sie malträtiren mich geradezu, mein Fräulein! Aber wie Sie ... wie Sie wollen ... Also adieu! Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater! . Ich habe die Ehre ...« Adam lüftete den Hut und verneigte sich sehr ceremoniell. Dann blieb er noch einen Augenblick vor der geöffneten Thür stehen. Auch Hedwig war stehen geblieben. Beide sahen sich fest in die Augen. Um Adams Lippen kräuselte es sich wie ein verhaltenes Lächeln der Befriedigung.

Als Hedwig Irmer die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufschritt, war es ihr plötzlich zu Sinn, als verstünde sie diesen Adam Mensch besser, als er sich[98] selbst verstünde. Und doch war ihre Welt eine so ganz andere, denn seine Welt. –

Adam ging langsam nach Hause. Es war zwischen fünf und sechs Uhr. Die eben aufkeimende Abenddämmerung des jungen Frühlingstages ließ ihre ersten, leisen, so wundervoll discreten, so entzückend verschämten Schatten spielen. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 84-99.
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