Neunzehntes Kapitel:

Allzu ernst behandelte Kleinigkeiten

[84] Der Oberpriester bemerkte bald die Verwirrung, die am Hofe herrschte. Potz Element! sagte er zu seinen Anhängern, wir haben sie im Garne, oder das Wetter soll mich erschlagen. Morgen wird die Versammlung der Reichsstände sein, aber nur getrost, wir bleiben standhaft. Das Volk ist auf unserer Seite. Die Frauen, denen ich eine[84] höchst übertriebene Beschreibung des Schaumlöffels gemacht habe, schwören, daß sie nicht gehorchen wollen. Fürchtet Euch nicht vor leeren Drohungen! Um allem zu trotzen, bedarf es nur Mut. Hohn, Spott, Schmach wird nur den Feigen treffen. Überdies, was haben wir schon zu befürchten? Der Prinz ist noch nicht zurück und der Schaumlöffel, der mit ihm reist, wird ihm gewißlich nie abgenommen; wer weiß, ob man beide je wieder sieht? Unsre Feinde, die unter sich uneins sind, können keine sicheren Streiche gegen uns führen. Da sie beschäftigt sind, sich einer vor dem anderen in acht zu nehmen, so dient ihr gegenseitiges Mißtrauen uns zum Heil. Kommt, meine Freunde, fuhr er fort, und laßt uns trinken. Der Himmel wird uns beschützen. Vielleicht gibt er mir während des Mahles, das ich Euch habe bereiten lassen, heilsame Gedanken ein.

Nach diesen Worten setzten sich die Priester gar andächtiglich zur Tafel. Da Saugrenutio lediglich nur da seine Entschlüsse zu fassen pflegte, so blieb man auch diesmal eine sehr geraume Zeit am Tische sitzen. Inzwischen verließ man ihn anstandshalber, als der Morgen heraufzudämmern begann. Jeder der Gäste kehrte mit gesenkten Augen und schwankenden Schritten wieder heim, nachdem er zuvor dem Oberpriester versprochen, ihm in seinen Absichten treulich beizustehen.

In der Stimmung waren die Gemüter, als die Versammlung eröffnet wurde. Saugrenutio erschien auf derselben mit der unerschrockensten Miene. Der Patriarch begann mit einer schwülstigen Rede, die er schon lange zuvor verfertigt hatte, die aber demungeachtet um nichts besser war. Mein Bruder, sagte er gar liebreich zu Saugrenutio, wenn der Himmel spricht, ist es fruchtlos, sich gegen seine Stimme taub zu stellen. Durch Euer Widerstreben gegen seinen Willen werdet Ihr strafbar und nötigt uns, die Gewalt, die der Höchste uns verliehen, gegen Euch zu gebrauchen.[85] Der Verlust Eurer Würde wird das wenigste sein, wozu wir Euch verdammen können. Wer kann wissen, zu welcher Strenge uns noch jene himmlische Stimme anmahnt, wenn Ihr Euch gegen Eure Pflichten sträubt? Möchte doch der Höchste Affe, der täglich ein Rauchopfer von Euch empfängt, o möchte er doch Eure Seele erleuchten, Euer verhärtetes Herz erweichen und mit seiner Rache noch innehalten! O möchten doch die inbrünstigen Gebete, die wir täglich für Eure Erhaltung emporsenden, seinen Zorn besänftigen und er Euch dahin bewegen, ein notwendiges Beispiel einer völligen Unterwerfung unter seine Befehle zu geben. Wohlan! sagte er endlich betrübt, legt uns die Sache vor und erläutert den Prozeß aufs schleunigste.

Nunmehr stand der Sprecher auf und erzählte mit der gewissenhaftesten Genauigkeit, ohne sich zu bekümmern, ob er zu weitläufig würde, die Geschichte des Schaumlöffels; und der Befehl der Fee Barbacela, ihn von dem Oberpriester lecken zu lassen, ward mehr herausgehoben als vergessen. Während dieser Erzählung, die sehr lange dauerte, bestärkte sich Saugrenutio samt seinem Anhange in dem Entschluß, nicht Gehorsam zu leisten. Kaum war die Rede beendet, als sich der Patriarch erhob und leise mit dem König sprach, gleichsam als ob Stimmen gesammelt werden sollten. Glaubt Ihr, aufrichtig gesprochen, daß er gehorchen wird? fragte Cephaes. Aber gewiß, versetzte der Patriarch, und er wird nicht der einzige sein. Der König, der sich einbildete, er habe dies seinetwegen gesagt und ihn darunter gemeint, erwiderte mit Entrüstung: Wie, er wird nicht der einzige sein? Gleichwohl ist niemand weiter hier, dem dies zu tun obliegt. Meint Ihr etwa, daß ich, ich in höchsteigener Person den Löffel lecken soll?

O pfui! versetzte der Patriarch. Und doch, fügte er hinzu, könnte es nicht schaden. Wenn Ew. Majestät sich dazu entschlössen, wird keiner von Dero Untertanen etwas dagegen[86] zu sagen haben. – Aber meine Untertanen haben dabei nicht das geringste zu tun, antwortete der König. Die Sache geht, wie ich Euch bereits gesagt habe, nur den Oberpriester an. – So glaubt Ew. Majestät, entgegnete der Patriarch; allein der Schaumlöffel ist bereits ein Mysterium und ein Gegenstand öffentlicher Verehrung geworden, mithin keine Privatsache mehr. – O meinthalben sei er, was Ihr wollt, gab Cephaes zurück; nur bitte ich, mich aus dem Spiele zu lassen. – Bei mehr Muße wollen wir das weiterbesprechen, versetzte der Patriarch, indes werdet Ihr, allergnädigster Herr, bloß das tun, was Ew. Majestät gefällig sein wird. – Darauf wandte er sich an Saugrenutio und riet ihm zu gehorchen. Das werde ich nicht tun, Ew. Hochwürden-Gnaden, sagte Saugrenutio. Nun dann, entgegnete der Patriarch traurig, wenn denn dieser Rebell es immer bleiben will, so erklären wir ihn seiner Würden verlustig; befehlen ihm, in die Hände des Königs die bärenhäutene Hose und in die unsrigen den Wildenten Fellmantel und den Kopfputz aus marmoriertem Papier wieder auszuhändigen, womit ihn unsere milde Freigebigkeit vor seiner Verstockung beehrt hat. Und Ihr, fuhr er fort, indem er sich gegen die übrigen Priester wandte, nehmt Euch hieran ein Beispiel und kommt durch schleunigen Gehorsam in Betreff des Schaumlöffels einem strengen Gericht von unserer Seite zuvor.

Nunmehr erhob sich ein Tumult von allen Seiten, allein der König und der Patriarch verließen die Versammlung, nachdem sie befohlen hatten, die ganze Verhandlung zu protokollieren.

Der Adel triumphierte über die Niederlage der Priester, als Saugrenutio das Wort nahm und sagte: Meine Herren, Ihr seht mich weniger bestürzt wegen der Schmach, die mir widerfahren ist, als wegen des unseligen Vorfalls, Zeuge von dem völligen Umsturz der Gesetze zu sein. Jene glücklichen[87] Zeiten sind nicht mehr, wo die Unschuld einen sichern Zufluchtsort gegen die Unterdrückung fand. Das Andenken, das uns davon noch übrig bleibt, dient nur zur Vermehrung unseres Schmerzes; unser Kummer kann jene Zeiten nicht wieder zurückbringen. Der Sklaverei preisgegeben, weil wir sie dulden, geschaffen für die Erniedrigung, in die man uns gebracht hat, können wir uns in den Augen der Welt nicht entschuldigen, wenn wir das Andenken unseres alten Glanzes vergessen. Ah! wozu würde er uns dienen, als unsere Erniedrigung noch verwerflicher zu machen! Das sind sie also, jene stolzen Scheschianer, die mit ihrer Glorie die ganze Erde erfüllten! Das ist also jenes so berühmte Volk! Ein elender Schaumlöffel macht diese erhabenen Sterblichen zittern! Ehemalige Verteidiger des Staats, fuhr er fort, und wandte sich gegen den Adel, von Euch verlange ich keinen Beistand. Der Niedergang, worin ich Euch erblicke, zeugt genugsam von Eurer Schwäche. Beugt Euch also unter das Joch der Tyrannei, Ihr seid es nicht wert, die Freiheit zu genießen. Also verbrennt jene berühmten Chroniken, worin die ruhmvollen Taten Eurer Ahnen aufbewahrt sind. Ich rate Euch nicht, daraus Beispiele von Tugenden zu schöpfen, sie wären für Euch fruchtlos. Wer über seine Knechtschaft nicht errötet, verdient nicht zu wissen, daß es freie Menschen in der Welt gibt.

Euch also, Diener des Höchsten, sprach er weiter, Euch allein kommt es zu, die Ungerechtigkeit zu verbannen. Was haben wir noch zu fürchten? Und sollten wir erliegen, muß nicht der Tod weniger schreckenvoll für uns sein als ein Leben voll ewiger Schande? Kommt, laßt uns die Ehre der Altäre rächen! Wir wollen jenem herabgesunkenen Stande Beispiele von Mut geben, die er nutzen kann. Laßt uns sterben, wenn es nötig ist, aber laßt uns als Bürger des Staats sterben. Nützlich unserem Vaterlande bis zu unseren letzten[88] Augenblicken, wollen wir ihm wenigstens zeigen, wie man sich von der Sklaverei befreit. Beständige Opfer des Ehrgeizes des Patriarchen, leben wir nur deshalb, um unsere Schmach unablässig erneuert zu sehen. Was hilft es, uns mit günstigeren Aussichten zu schmeicheln? Was für Hoffnungen können wir ohne Verwegenheit wohl fassen? Ist es uns wohl vergönnt zu glauben, daß er's bei dem Schaumlöffel bewenden lassen wird? Leidet erst jetzt die Scheschianei unter seinen Projekten? Wir brauchen nur die Geschichte aufschlagen, und wir finden, ohne verhaßtere Begebenheiten herauszusuchen, was vor sechshundert Jahren der Patriarch Hinho-hu-Yalucha für Unruhen anrichtete, als er von uns begehrte, den Schweif einer Elster zu küssen. Was für blutige Kriege entstanden nicht ein Jahrhundert später, als der Patriarch Onsucho die viereckigen Knebelbärte einführte? Was für ein Unheil entstand nicht aus Rimachus Hartnäckigkeit, als er den geweihten Pfifferling abschaffen wollte.

Endlich begann nach den blutigsten Aufständen dieser Staat wieder Atem zu holen, die Patriarchen, die einsichtsvoller, unterwürfiger gegen die Gesetze und eifriger auf die Ehre der Religion bedacht waren, trugen keine anstößigen Meinungen mehr vor; eine reinere Sonne leuchtete uns. Ach! wir, die endlich ruhig im Schatten unserer Altäre saßen, schmeichelten uns, jene aufrührerischen Stürme würden sich nie wieder erheben. Aber, Ihr großen Götter! welche schreckliche Revolution! Und worauf gründet sie sich? Eine Fee bringt einen Schaumlöffel. Es wäre höchst notwendig, daß ich ihn hinunterwürgen müßte, sagte der Prinz, nachdem ihn die scheußlichste Alte im Munde gehabt hatte. Es wäre, fügte er hinzu, ein Befehl, den er von jener Fee erhalten habe. Ohne diese Zeremonie, heißt es, könne seine Vermählung nicht glücklich enden. Ich, der ich mehr auf die Würde meines Postens als auf mein Privatinteresse[89] Rücksicht nehme, weigere mich. Der Prinz erfährt Schicksale, die nicht zu den gewöhnlichen gehören, daraus macht man mir ein Verbrechen. Ein Patriarch erläßt ein ungerechtes Dekret. Ja, mehr noch, man versammelt die Stände des Reichs gegen mich, spricht das ungerechteste Urteil von der Welt wider mich aus. Noch nicht zufrieden, mich zu erniedrigen, treibt man die Frechheit so weit, das ganze Kollegium der Priester zwingen zu wollen, den Schaumlöffel zu lecken. Alle Stände des Reichs werden in mein Unglück verwickelt. Was haben sie denn für Gemeinschaft mit mir? Gesetzt nun auch, daß ich den Schaumlöffel hätte lecken müssen, war es nötig, daß sie es auch taten? Der Prinz hat nur mich genannt. Zudem zeige man mir den Befehl der Barbacela vor. Eine Sache von dem Belang verlangt starke Beweistümer. Wird dem Prinzen so leicht geglaubt, so bekömmt er alle Tage neue Einfälle, und was weiß ich, was er uns endlich noch zu lecken gibt! Aber gesetzt den Fall, ich wollte jetzt Gehorsam leisten, wo ist jener Schaumlöffel? Der Prinz und er hängen fest aneinander. Wo soll man sie jetzt suchen, und was für ein Verbrechen beging ich, wenn ich ihre Zurückkunft erwartete? Inzwischen entehrt man mich, setzt mich ab, nimmt man mir die Zeichen meiner Würde. Doch bin ich glücklicher, da ich alles verliere, als wenn ich gehorcht hätte, und ich preise die Götter, daß sie mir dazu den Mut verliehen haben. Weit höher werde ich in meinem Privatleben stehen als im schimpflichen Besitz der Güter, die man mir geraubt hat; wenigstens werde ich die Sklaverei meiner Landsleute nicht sehen.

Denn schmeichelt Euch nicht, wandte er sich an die Großen, daß Eure sträfliche Nachgiebigkeit Euch von dem Schaumlöffel befreien wird. Mir ist nicht unbekannt, ich nehme sogar mit Schaudern wahr, daß Ihr den alten Streit mit uns mehr liebt als die Ehre der Religion, und daß Ihr[90] Euch daher heimlich über das Unglück freut, das uns zu Boden drückt. Ach, vereinigen wir uns lieber. Begreift doch endlich, daß uns einerlei Gefahr droht, und kann Euch hierzu nichts bestimmen, so halte Euch wenigstens der Rückblick auf Euren ehemaligen Ruhm aufrecht.

O Ihr edlen Scheschianer, es gibt ein doppeltes Unglück in der Sklaverei, das aufeinanderfolgt: Erst seufzt man unter der Knechtschaft, und dann erinnert man sich ihrer noch immer mit Scham, wenn sie schon längst aufgehört hat. Ruft Euren Mut wieder zurück. Zerbrecht die Ketten, die man Euch anlegt; sie verschwinden, wenn Ihr sie nicht mehr duldet. Man stürzt nur diejenigen in die Erniedrigung, von denen man glaubt, daß sie geduldig dort ausharren werden. Wir sind umgeben von Unheil, das uns zu treffen im Begriff ist. Nur ein mutiger Entschluß kann uns allein von den neuen Bedrückungen retten, die man uns bereitet.

Laßt uns jenes verhaßte Joch abschütteln, unter dem wir so lange geschmachtet haben! Das Volk, das ein Zeuge unserer Beschimpfung war, sei endlich ein Zeuge unserer Rache! Wir werden gefürchtet sein, sobald wir nur beginnen. Laßt uns jene beleidigenden Dekrete zunichte machen, die Feindschaft und Ungerechtigkeit eingegeben haben! Ich stehe Euch für den Erfolg. Wozu sind nicht Menschen fähig, die für die Götter und für ihre Freiheit kämpfen?

Wie er so gesprochen hatte, teilten sich die Stände, die vorher über seine Verdammung ganz einig gewesen waren. Es wurden verschiedene Meinungen laut. Die Abergläubigsten, die durch Saugrenutios Rede erschüttert waren, glaubten in der Tat, die Götter wären an dieser Sache interessiert, nahmen des Oberpriesters Partei und schrien, der Prozeß müsse revidiert werden. Die aber, die es mit dem König und dem Patriarchen hielten, behaupteten: der Oberpriester sei zu Recht gerichtet worden, und verlangten, daß[91] der Spruch, der ihn und die Priester verdammte, durchgehen sollte. Der Streit wurde hitzig, und die Versammlung ging auseinander.

Das Volk erfuhr, was vorgegangen war, und da es für sich fürchtete, erklärte es sich für Saugrenutio. Der Patriarch, der einen allgemeinen Aufstand besorgte, hielt mit seinem Bann zurück und bewilligte dem Oberpriester eine Bedenkzeit. Dieser, zufrieden, seinen Untergang aufgeschoben zu sehen, hoffte, daß man während der Unruhen, die auszubrechen im Begriff waren, sich fürchten würde, ihn anzugreifen; daß, bevor die Sache mit dem Schaumlöffel entschieden worden sei, fünfzig Jahre vergingen und daß diese Kränkung wahrscheinlich erst seinen Nachfolger treffen würde.

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 84-92.
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