Zweites Kapitel

Wie dieser Schatz nach Frankreich gekommen ist

[6] Vor beinahe hundert Jahren befand sich zu Nanking ein Holländer, der ein Mann von Geist war. Seines Handels wegen mußte er sich dort längere Zeit aufhalten, so daß er das Chinesische ziemlich gut erlernen konnte. Um sich noch mehr darin zu festigen, wollte er eine Übersetzung verfertigen. Da fiel ihm dieses Buch in die Hände. Er bewunderte es und machte sich an die Arbeit. Nach drei Jahren war es ihm gelungen, es ins Holländische übertragen zu haben; indes freilich sehr unvollkommen, wie er selbst eingesteht. Er fühlte wenig Drang, es dem Publikum zu übergeben.

Nach Europa zurückgekommen, überließ er sein Werk[6] einem Busenfreunde, dem hochberühmten Magister Joannes Casparus Crocovius Putridus in Leipzig, der in der gelehrten Welt durch den Disput sehr bekannt ist, den er mit dem Doctor Emanuel Protzigius wegen einer wichtigen Sache gehabt hat. Der Streit war darum gegangen, ob die Meuten der keuschen Diana aus Hunden und Hündinnen oder nur bloß aus Tieren einerlei Geschlechts bestanden hätten. Nach lebhaftem Kampfe blieb die Palme des Sieges dem Putridus. Er bewies durch Gründe, die von der Keuschheit der Göttin hergenommen waren, und durch Zeugnisse der größten Männer des Altertums, daß die Göttin nur Hündinnen gehabt habe.

Der Holländer kam gerade zu der Zeit nach Leipzig, als alle Gelehrten Deutschlands dem Putridus schriftlich und mündlich Dank über den wichtigen Dienst sagten, den dieser soeben der Gelehrtenrepublik geleistet hatte; jener bat letzteren, seine holländische Übersetzung zu kommentieren. Crocovius übersetzte sie ins Lateinische, bereicherte sie mit Anmerkungen, Kommentaren und Randglossen und war eben im Begriff, sie der Welt in drei starken Foliobänden vorzulegen, als ein frühzeitiger Tod den gelehrten Mann fortraffte. Seine beiden Neffen Balthasar Onorosus und Melchior Stupidus Häreseomastix, die Erben seiner Güter, seiner Grundgelehrsamkeit und seiner sehr heftigen Unduldsamkeit gegen Meinungen anderer, gaben seinem Buche weitere Zusätze, kommentierten es, erläuterten seine Anmerkungen, fügten neue hinzu, verglichen die verschiedenen Lesarten, ergänzten viele Stellen und ließen es endlich zu Nürnberg in fünf ansehnlichen Foliobänden drucken, als die Pest sie wegraffte. Ihre Kinder, weniger gelehrt und vielleicht außerstande, die Kosten einer so wichtigen Ausgabe zu bestreiten, verkauften das Werk ihrer Väter einem edlen Venetianer, der sich damals gerade in Nürnberg aufhielt.[7]

Nachdem dieser Herr, der Signor Annibale Giuliano Scipione Buz-è-via degli Tafanari hieß, nach Venedig zurückgekommen war, übersetzte er dies Buch in seine Sprache; doch nicht so, wie er's gekauft hatte. Da er das Lateinische nur unvollkommen verstand, ließ er alles weg, was nach Gelehrsamkeit schmeckte, bediente sich der Beihilfe eines Servitenmönchs, und beide brachten es durch Hilfe eines Wörterbuches endlich dahin, daß es in venetianischer Sprache erscheinen konnte. Hätten Se. Exzellenz Buz-è-via die gelehrten Anmerkungen benutzen können, womit die Deutschen dieses Werk geschmückt hatten, so würden wir es weit vollständiger besitzen und unzählige Stellen, die der Klärung bedürfen, würden darin nicht fehlen. Wir rühmen uns nicht, daß die letzte Übersetzung gut geraten sei. Das Venetianische ist ein schwer zu verstehender Jargon; und der französische Übersetzer gesteht, daß es sogar im Toskanischen viele Ausdrücke und Redensarten gibt, die ihm nicht geläufig sind. Kein Wunder, sobald man weiß, daß er das Italienische nur zwei Monate unter der Anweisung eines Franzosen, eines seiner Freunde, studiert hat, der selbst nur sechs Wochen in Rom gewesen war.

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 6-8.
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