[Versteinerte Eichen am Grund der Lagune]

[41] Versteinerte Eichen am Grund der Lagune

Beginnen dem Sumpfe mit Wucht zu entwuchern

Es wachst schon die trutzige Dünenkomune,

Und Kunden erblühen von Nordlandbesuchern.


Es können sich rumpfige Gruppen erreichen,

Es schließen sich Thore, es öffnen sich Brücken,

Es wollen sich wiedererstandene Leichen

Die bleiche, verfeinerte Marmorhand drücken.


Die Seele der alten, versunkenen Wälder

Beginnt sich auf einmal verklärt zu beleben,

Arkadien erwacht, junge Lichtrauschvermelder

Belauschen die Fluthen im Dunkel von Reben.


Es grünt und es blüht unser keusches Venedig,

Erfrischt und verjüngt durch die Reinheit des Meeres,

Gelingt es der Seebraut, des Blutbuhlen ledig,

Ein Freistaat zu sein und ein Herz des Verkehres.


Rialto, die Pulsadern deiner Entfaltung,

Kanäle und Ströme, die ferneher fließen,

Gewähren den Träumen der Pfahlwelt Gestaltung,

Da ringsum verkalkte Gespenstalgen sprießen.


Es tragen die Fluthen vom Osten her Rosse,

Porphyre und Stoffe zum Strande des Piave,

Rabbiner lustwandeln auf grünendem Flosse,

In goldenen Kirchen ertönt hold das Ave.


Die Götter Arkadiens sind wieder erstanden,

Im Schatten von Pappeln schlürft Pan kühle Muscheln,

Sirenen, die schüchtern auf Stranddünen landen,

Beginnen sich Märchen der See zuzutuscheln.
[41]

Nun tutet Neptun, bis zum Bauche erhoben,

Und weckt die Tritone, die halb erstickt schnarchen,

Die Fichtentitanen und Brackwasserkloben

Entrecken Holzkronen und Kranzwartenarchen.


Mit glühendem Sonnenstift zeichnet sich Klio

Die Thurmthaten auf, die zum Goldhimmel zucken,

Es flattern die Wespengespenster der Io

Zum Schriftforscher Rio, wo Glastadler spuken;


Promethische Zinnen, mit reinen Erdstimmen,

Erklimmen mit Lebensgischtschwingen den Himmel,

Ein Athemgold kann in der Tiefe erglimmen

Und rings übersprüht es das Menschengewimmel.


Venedig, du selbst bist die klaffende Auster,

In der Aphrodite die Schönheit bekräftigt,

Venedig, es rahmt dich ein zephyrgekrauster

Gischtschleier, der lebhafte Nymphen beschäftigt.


Es weben die Wellen sich Lichtflitterflore,

Die Schleier der Keuschheit entschweben dem Meere;

Venedig, eröffne der Venus die Thore,

Doch stelle dich stolz gegen Lilith zur Wehre.
[42]

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 41-43.
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