Erster Gesang

[286] Des Allbewegers Herrlichkeit durchdringt

Das ganze Weltall, aber sie erglänzet

An einer Stelle mehr, als an der andren.

Im Himmel, dem von seinem Licht am meisten

Zuteil wird, war ich und ich schaute Dinge,

Die weder sagen kann, noch weiß, wer heimkehrt.

Denn, naht sich unser Geist dem letzten Ziele

Der Sehnsucht, so versinkt in solche Tief' er,

Daß das Gedächtnis ihm nicht folgen kann.

Doch, was an Schätzen aus dem heil'gen Reiche

Aufspeichern ich in der Erinnrung konnte,

Sei nun der Gegenstand von meinem Liede.

O gütiger Apollo, mach du mich

So zum Geräte für die letzte Arbeit,

Wir du verlangst zur werten Lobeerspende.

Der eine von den Gipfeln des Parnasses

Genügte mir bisher; nun muß mit beiden

Ich auf den Plan, der noch zurück ist, treten.

So zeuch denn ein in meine Brust und hauche,

Sowie du tatest, als den Marsyas

Du aus der Scheide seiner Glieder zogest!

O Himmelskraft, gewährst du dich so weit mir,

Daß des gebenedeiten Reiches Schatten,

Wie ihn mein Haupt bewahrt, ich offenbare,

So siehst du zu dem Baume der dir lieb ist

Mich kommen, mit dem Laub mich zu bekränzen,

Des du mich wert machst und der Gegenstand.

So selten wird davon gepflückt, o Vater,

Damit zu krönen Feldherrn oder Dichter

(Zur Schuld und Schande menschlicher Begierden),

Daß des Penéus Laub dem frohen Gotte

Von Delphi, wenn in jemand es Verlangen

Nach sich hervorruft, Lust bereiten sollte[286]

Aus kleinem Funken lodert große Flamme;

Vielleicht, daß einst mit mehr befugter Stimme

Gebeten wird um Cirrha's günst'ge Antwort.

Aus manch verschiedner Mündung steigt die Leuchte

Der Welt den Sterblichen empor; jedoch

Aus keiner bess'ren Laufs und mit Gestirnen

Von höhrer Kraft verbunden, nie bereitet

Und siegelt sie so gut das Wachs der Welt,

Als wenn vier Kreisen sie drei Kreuze einet.

Fast hatte Morgen jene Mündung dort,

Und Abend hier gemacht; deshalb war jene

Halbkugel völlig hell, die unsre dunkel,

Als ich Beatrix nach der linken Seite

Gewendet sah und in die Sonne schauen;

Kein Adler schaute je so fest hinein.

Und wie ein zweiter aus dem ersten Strahle

Hervorzugehn und aufzusteigen pflegt,

Gleich wie ein Pilger, der sich wieder heimsehnt,

So folgte ihrem Tun, das durch die Augen

Sich mitgeteilt mir hatte, meines nach,

Und über Menschenbrauch blickt' ich zur Sonne.

In Kraft des Ortes, der geschaffen ward

Zum Eigentum der Menschheit, können dort

Die Sinne manches, was sie hier nicht können.

Nicht lang' ertrug ich's, aber doch so lange,

Daß ich rings um sie funkeln sah, wie wenn

Das Eisen siedend aus dem Feuer rinnet.

Und plötzlich schien ein zweiter Tag dem Tage

Hinzugefügt, als hätte, der es kann,

Mit einer Sonne mehr geschmückt den Himmel.

Es haftete nur an den ew'gen Rädern

Beatrix' Auge, und als ich die meinen,

Von oben abgekehrt, auf sie nur wandte,

Ward ich in ihren Anblick innerlich

Dem Glaukus ähnlich, der als er vom Kraute

Geprobt, Genosse ward der Meeresgötter.[287]

»Die Menschheit überschreiten« ist durch Worte

Nicht auszudrücken, drum genüge jedem,

Dem Gnad' Erfahrung vorbehält, das Beispiel.

Ob ich nur das war, was du neu geschaffen,

Weißt du, o Liebe, die den Himmel lenket,

Da du mit deinem Lichte mich emporhobst.

Als mich das Kreisen, welches du durch Sehnsucht

Verewigst, durch die Harmonie, die du

Bestimmst und einteilst, zu sich hingewendet,

Schien durch der Sonne Flamme mir vom Himmel

So viel entbrannt zu sein, daß Überschwemmung

Und Regen nie so großen See gebildet.

So machten mich nach ihrem Grund begierig

Des Tones Neuheit und das große Licht,

Daß gleiche Wißbegier ich nie gekannt.

Doch sie, die mich verstand, so wie ich selber

Tat eh' zum Fragen ich den Mund geöffnet,

Den ihren, um mich zu befried'gen, auf,

Und sie begann: In deinem falschen Wahne

Betörst du selber dich: so daß du nicht siehst,

Was, würfest du ihn ab, du sehen würdest.

Nicht auf der Erde bist du wie du wähnest;

Nie fuhr ein Blitz, verlassend seine Stätte,

So schnell hinab, als du zu ihr hinauf eilst. –

Wenn mich die kurzen, unter süßem Lächeln

Gesprochnen, Worte von dem ersten Zweifel

Befreit, verstrickte nun ein zweiter mich.

Ich sagte: Schon werd' ich von großem Staunen

Beruhigt; doch, wie diese leichten Körper

Mein Körper überfliegt, bestaun' ich nun. –

Drauf richtet' unter mitleidsvollem Seufzer

Auf mich den Blick sie mit der Mutter Ausdruck,

Die ihres Kindes Fieberwahne zuschaut.

Und sie begann: Geordnet zueinander

Sind alle Dinge; dies Gesetz allein

Macht, daß das All der Welt Gott ähnlich ist.[288]

Es sehn in ihm die hohen Kreaturen

Die Spur der höchsten Kraft, in der das Ziel liegt,

Zu welchem die gedachte Ordnung hinweist.

Es fügen ihr sich alle Wesen ein,

Die ihrem Ursprung, je nach ihrem Lose,

Mehr oder minder fern und nahe sind.

Drum schiffen in des Daseins großem Meere

Sie nach verschied'nen Häfen, und Naturtrieb

Ward jedem zugeteilt, daß er es leite.

Er ist es, der das Feuer mondwärts treibt,

Des Menschenherzens Regung kommt von ihm,

Er ist es, der den Erdball eint und festigt.

Und dieses Bogens Pfeile treffen

Nicht nur erkenntnislose Wesen, nein,

Auch die begabt mit Einsicht sind und Liebe.

Es gibt die Vorsehung, die dies geordnet,

Mit ihrem Licht dem Himmel ew'ge Ruhe,

In welchem, der am schnellsten eilt, sich drehet.

Jetzt aber trägt, wie zu beschlossenem Ziele

Dorthin uns jener Bogensehne Kraft,

Die was sie losschnellt lenkt zu frohem Ende.

Wohl ist es wahr, daß, wie des Künstlers Absicht

Die Form oft nicht entsprechen will, indem

Der Stoff, als wär' er taub, nicht Antwort gibt,

So das Geschöpf sich oft von dieser Bahn

Losmacht, da, trotz des Antriebs, es die Macht hat,

Sich auch nach andrer Seite hinzuwenden

(Wie ja zur Erde Feuer aus der Wolke

Man fallen sieht), sobald durch falsche Lüste

Zu Irdischem der erste Drang gelenkt wird.

Nun hast du, schließ' ich recht, nicht größren Anlaß

Zum Staunen, als wenn du von hohem Berge

Zum Tal hernieder fließen siehst den Bach.

Wär'st, frei vom Hemmnis, unten du geblieben,

So wäre das nicht minder zu verwundern,[289]

Als blieb' am Boden haften frisches Feuer. –

Dann wandt' ihr Aug' aufs neue sie gen Himmel.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 286-290.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon