Neunzehnter Gesang

[359] Das schöne Bild, das die vereinten Seelen

Im freudigen Genuß befriedigte,

Erschien vor mir mit ausgespannten Flügeln,

Und ein Rubin zu sein schien eine jede,

In welchem so das Licht der Sonne brannte,

Daß es zurückgestrahlt ward in mein Auge.

Das aber, was mir nun zu schildern obliegt,

Sprach keine Zunge je, schrieb keine Feder,

Und Phantasie hat nimmer es gestaltet.

Denn reden sah und hört' ich jenen Schnabel

Und »ich« und »mein« in seiner Rede sagen,

Wo die Bedeutung »wir« und »unser« war.

Und er begann: Weil ich gerecht und fromm bin,

Ward ich hierher erhöht zu dieser Glorie,

Die mehr gewährt als je ein Wunsch erstrebte.

Zurück auf Erden ließ ich solch Gedächtnis,

Daß zwar die argen Völker es beloben,

Doch der Geschichte Beispiel schlecht befolgen. –

So wie nur eine Glut aus vielen Kohlen

Man brennen fühlt, so ging aus diesem Bilde

Von vielen Liebenden ein Ton nur aus.

Drauf sagt' ich: O unwandelbare Blumen

Der ew'gen Freude, die all' eure Düfte

Ihr mich empfinden laßt, als wär' es einer,

O macht mit eurem Hauch dem großen Fasten

Ein Ende, das durch Hunger lang' mich quälte,

Weil Speise dafür nicht die Erde bot.

Wohl weiß ich, ist der Himmelreiche eines

Ein Spiegel göttlicher Gerechtigkeit,

So sieht das eurige sie ohne Schleier.

Ihr wißt, wie aufmerksam ich mich bereite,

Euch zuzuhören, wißt auch, welcher Zweifel

Der Inhalt meines alten Hungers ist. –[360]

So wie der Falke, nimmt man ihm die Kappe,

Den Kopf bewegt und mit den Flügeln schlägt,

Indem er Jagdlust zeigt und sich herausputzt,

So sah ich unter Liedern, die nur kennt

Wer dort beseligt ist, den Adler tun,

Der ganz aus Lob von Gottes Huld bestand.

Alsdann begann er: Der bis zu den Enden

Der Welt den Zirkel schlug, und der in ihr

So viel des Dunkeln schied vom Offenbaren,

Vermochte nicht, in das gesamte Weltall

So seine Kraft zu prägen, daß sein Wort

Es nicht unendlich weit noch überragte.

Beweis davon ist, daß der erste Stolze,

Der doch der Kreaturen höchste war,

Aus Ungeduld nach Licht so schmählich fiel.

Es folgt hieraus, daß jedes kleinre Wesen

Ein kärgliches Gefäß des Gutes ist,

Das, schrankenlos, sich selber nur zum Maß dient.

So kann denn unser Blick, der von den Strahlen

Des Geistes, dessen alle Dinge voll sind,

Ein einzelner nur sein kann, nie aus eigner

Natur vermögend sein, soviel zu schauen,

Daß nicht sein Urgrund noch viel tiefer dränge,

Als was in seiner Macht steht zu erkennen.

Drum in die ewige Gerechtigkeit

Dringt so der Blick ein, der der Welt gewährt ist,

Wie auf des Meeres Grund das Auge dringt.

Wohl sieht es nahe ihn dem Küstensaume,

Doch nicht im hohen Meer, und dennoch ist er

Vorhanden; nur daß seine Tief' ihn birgt.

Was von dem Himmel, dessen Blau nie dunkelt,

Nicht herkommt, ist kein Licht, ist Finsternis,

Ist fleischgeborner Schatten oder Gift.

Nun ist die dunsle Schlucht dir aufgehellt,

Die die lebendige Gerechtigkeit

Dir barg und dich bewog zu soviel Fragen.[361]

Du sagtest, an des Indus Ufer wird

Ein Mensch geboren; aber dort ist niemand

Der redet, oder liest und schreibt von Christo.

Doch ist in allem was er will und tut

Nach menschlichem Begriff er gut zu nennen,

Im Leben wie in Worten ohne Sünde;

So stirbt er ungetauft und ohne Glauben.

Ist's nun Gerechtigkeit, ihn zu verdammen?

Wo ist denn seine Schuld, wenn er nicht glaubte?

Wer bist denn du, der auf den Richterstuhl

Dich setzen willst, um auf viel tausend Meilen

Zu richten, und dein Blick reicht keine Spanne?

Wohl hätte, wer mit mir so feine Fragen

Ergründen wollte, Grund zu schwerem Zweifel,

Wenn über euch die heil'ge Schrift nicht stünde.

Ihr Tiere ird'schen Stoff's, ihr stumpfen Geister;

Der höchste Wille, welcher gut an sich ist,

Entfernt sich nie von sich, dem höchsten Gute.

Was ihm entsprechend ist, das ist gerecht.

Ihn an sich ziehn kann kein erschaffnes Gut,

Er aber ist, ausstrahlend, dessen Ursach. –

Sowie der Storch, nachdem er seine Jungen

Gefuttert, über seinem Neste kreist,

Und die Gesättigten zu ihm emporschaun,

So tat das benedeite Bild, die Flügel

Im Einklang vielfachen Entschlusses regend,

Und so schlug ich zu ihm die Wimpern auf.

Im Kreise schwang es singend sich und sprach:

Wie mein Gesang dir unverständlich bleibt,

So ist's das ewige Gericht euch Menschen. –

Zur Ruhe kehrten dann die lichten Brände

Des heil'gen Geistes wieder in dem Zeichen,

Durch das die Welt den Römern Ehrfurcht zollte.

Dann fuhr es fort: Es stieg zu diesem Reiche

Nie jemand auf, der nicht an Christum glaubte,

Sei's eh' man ihn ans Holz schlug oder nachher.[362]

Doch sieh, gar viele rufen: Christe, Christe!

Die im Gericht ihm werden minder nah sein,

Als mancher, der von Christo nichts vernommen.

Und manchen Christen wird der Mohr verdammen,

Wenn die zwei Scharen einst geschieden werden,

Die eine ewig reich, und arm die andre.

Was können nicht die Perser euren Kön'gen

Vorhalten, wenn das Buch sie offen sehn,

Drin deren Sünden alle sind geschrieben.

Drin wird man lesen unter Albrechts Taten

Die welche bald bewegen wird die Feder,

So daß verödet bleibt das Prager Reich.

Das Unheil wird man sehn, das an der Seine

Durch seine Münzverfälschung der herbeiführt,

Der sterben wird von eines Hauers Stoße.

Man wird den Stolz sehn der den Engelländer,

Den Toren, gleich dem Schotten so erfüllt,

Daß ihre Schranken sie nicht dulden wollen.

Man wird die Wollust und die Weichlichkeit

Des Spaniers sehen, sowie die des Böhmen,

Der Tüchtigkeit nie kannt' und nie gewollt hat.

Dort wird dem Ciotto von Jerusalem

Mit I man seine Güte, doch mit M

Das Gegenteil ihm angezeichnet finden.

Man wird den Geiz, die niedrige Gesinnung

Des Hüters von der Feuerinsel sehn,

Auf der Anchises schloß sein langes Leben.

Und um zu zeigen, wie gering er ist,

Wird seine Schrift mit abgekürzten Lettern

Verfaßt, die viel in wenig Raume sagen.

Des Oheims und des Bruders schmutz'ge Taten

Wird jeder sehn, die solch ein edles Volk,

Sowie zwei Kronen, tief herabgewürdigt.

Den Portugiesen wird und den Norweger

Man dort erkennen, sowie den von Rascien,

Der, sich zum Unheil, sah Venedig's Stempel.[363]

Ein Glück für Ungarn, läßt es sich nicht länger

Mißhandeln; glücklich auch Navarra, braucht es

Als Waffe das Gebirg, das es umgürtet.

Erkenne jeder, daß zum Zeichen dessen

Schon Nicosia sowie Famagosta

Laut über ihre Bestie murr'n und klagen,

Die von der andren Flanke sich nicht losmacht. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 359-364.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon