Sechsundzwanzigster Gesang

[389] Noch zweifelt' ich ob der erloschnen Sehkraft;

Da ging ein Hauch von jener lichten Flamme,

Die sie geblendet, aus und hieß mich lauschen.

Er sagte: Bis in dir der Sinn des Auges

Erwacht ist, welchen du an mir verzehrtest,

Ziemt es, durch Reden ihm Ersatz zu bieten.

Beginne denn, und wohin deine Seele

Sich kehre, sprich; doch halte dich versichert,

Daß deine Sehkraft schläft, nicht aber tot ist,

Indem die Herrin, die durch diesen hehren

Bezirk dich führt, in ihrem Blick die Kraft hat,

Die in der Hand des Ananias lag. –

Und ich: Früh oder spät genesen mögen,

Wie's ihr gefällt, die Augen, welche Pforten

Der Glut gewesen, die mich stets entzündet.

Das Heil, das diesen Hof zufriedenstellt,

Ist jeder Schrift, die laut mir oder leise

Die Liebe zum Gesetz macht, A und O.

Dieselbe Stimme, welche mir die Furcht

Der plötzlichen Erblindung abgenommen,[389]

Belud mich mit der Sorge weitren Redens.

Sie sagte: Wahrlich, ein noch eng'res Sieb

Bedarf's zu deiner Klärung; sagen sollst du,

Wer auf dies Ziel gerichtet deinen Bogen. –

Und ich: Durch Gründe der Philosophie

Und manches Zeugnis, das von hier herabstieg,

Hat solche Liebe sich mir eingeprägt.

Das Gut, sobald es nur als Gut erkannt wird,

Entzündet Liebe, und zwar um so größre,

Je mehr von Güte es in sich begreift.

Deshalb muß zu dem Wesen, das an Güte

So reich ist, daß von seinem Strahl ein Licht nur,

Was Gutes außer ihm sich findet, ist,

Die Seele jedes, der die Wahrheit einsieht

Auf der mein Schluß beruht, in größrer Liebe

Als zu jedwedem andren sich bewegen.

Und meinen Geist versichert dieser Wahrheit

Der mir die erste Liebe schildert, welche

Die ewig dauernden Substanzen fühlen.

Gleichfalls versichert mich der Mund der Wahrheit

Die, von sich selber redend, sagt zu Mose:

Ich will dir alle meine Güter zeigen.

Auch du versicherst mich's in deiner hohen

Verkünd'gung Anfang, die vor allen andren,

Dort unten eu'r Geheimnis offenbart. –

Und ich vernahm: Nach menschlicher Erkenntnis

Und nach dem Wort der Schrift, das jener beistimmt,

Gehört die höchste deiner Lieben Gott;

Doch sage ferner, ob noch andre Fäden

Dich zu ihm ziehn, so daß, mit wie viel Zähnen

Dich diese Liebe beiße, du verkündest. –

Verborgen war mir nicht die heil'ge Absicht

Des Adlers Christi, und gar wohl erkannt' ich,

Wohin er leiten wollte mein Bekenntnis.

Darum begann ich wieder: All' die Bisse,

Durch die das Herz zu Gott gewendet wird,[390]

Sie haben mitgewirkt zu meiner Liebe.

Das Sein der Welt, sowie mein eignes Dasein,

Der Tod, den er erlitt, damit ich lebe,

Und das, was jeder Gläub'ge mit mir hofft.

Sie haben mich, vereint mit jener sichren

Erkenntnis, aus dem Meere der verkehrten

Gerettet an der rechten Liebe Ufer.

Die Blätter, die des ew'gen Gärtners Garten

Belauben, lieb' ich alle in dem Maße,

In dem sie Heil von ihm empfangen haben. –

Sobald ich schwieg, ertönte durch den Himmel

Ein wundersüßes Lied, und meine Herrin

Rief mit den andren: Heilig, heilig, heilig!

Und wie bei grellem Licht der Schlaf entweicht,

Weil, wie der Glanz in's Auge tief und tiefer

Eindringt, zurück der Sehkraft Geister eilen

Und den Erwachten, dessen neues Wachsein

Bewußtlos ist, bis ihm die Urteilskraft

Zu Hilfe kommt, zurückschreckt was er sieht,

Also vertrieb Beatrix jede Trübung

Von meinen Augen durch den Strahl der ihren,

Die tausend Meilen weit und weiter glänzten.

Nun sah ich besser als zuvor ich sah,

Und schleunig frug nach einem vierten Licht ich,

Das ich bei uns gewahrte, voll Erstaunens.

In jenem Lichtglanz, sagte meine Herrin,

Beschaut die erste Seele, die die Urkraft

Jemals geschaffen, liebend ihren Schöpfer. –

Wie, wenn der Wind vorüberzieht, der Baum

Den Wipfel neigt, und dann durch eigne Spannkraft,

Die ihn nach oben treibt, empor sich richtet,

So tat ich staunend während ihrer Worte;

Dann aber gab mir neue Zuversicht

Der Wunsch zu reden, welcher mich entflammte,

Und ich begann: O Apfel, der allein du

Schon reif geschaffen bist, uralter Vater,[391]

Dem jede Gattin Tochter ist und Schnur,

So ehrfurchtsvoll ich kann beschwör' ich dich

Zu mir zu reden. Mein Verlangen siehst du,

Doch sag' ich's nicht, auf daß ich bald dich höre. –

Wenn sich ein Tier bewegt, das überdeckt ist,

Erkennt durch die entsprechende Bewegung

Der Hülle oft man was das Tier begehrt.

Nicht anders ließ der Erstling aller Seelen

Durch seine Flammenhüll' hindurch mich sehn,

Wie gern bereit er sei, mir zu genügen.

Dann haucht' er: Dante, ob mir gleich dein Wunsch

Nicht ausgesprochen ist, kenn' ich ihn besser

Als du kennst was am besten dir bekannt ist;

Denn ich erblick' ihn im wahrhaften Spiegel,

Der alle Dinge macht nach seinem Bilde,

Indes kein Ding zu seinem Bild ihn macht.

Vernehmen willst du, vor wie langer Zeit

Mich Gott gesetzt hat in den hohen Garten

Wo diese dich gereift zur hohen Stiege.

Sodann, wie lang' er meinen Blick erfreute,

Was wahrer Grund des großen Zornes war,

Und welche Sprach' ich bildete und brauchte.

Nun denn, mein Sohn, daß ich vom Baum gekostet,

War nicht an sich der Grund so schweren Bannes;

Allein der Schranke Überschreitung war es.

Viertausend und dreihundert zweimal kreiste

Die Sonne, während ich, wo deine Herrin

Virgil berief, nach diesem Chor mich sehnte.

Und während ich auf Erden weilte, sah ich

Zu allen Lichtern ihrer Bahn die Sonne

Neunhundertdreißig Male wiederkehren.

Die Sprache, die ich redete, war eh' noch

Zum Werke, das sich nie vollenden ließ,

Sich Nimrod's Völker wandten, ganz erloschen;

Denn kein vernünftiges Erzeugnis war

Von ew'ger Dauer je, weil das Gefallen[392]

Der Menschen wechselt mit dem Drehn des Himmels.

Natur gebeut dem Menschen, daß er rede;

Ob aber diese oder jene Sprache,

Das überläßt sie euch und eurer Willkür.

Eh' ich zur Angst der Hölle niederstieg,

Ward L das höchste Gut genannt auf Erden,

Von dem die Freude kommt, die mich umgürtet.

Dann heiß es El, und solcher Wechsel ziemt sich;

Denn gleich dem Laub' am Zweige ist der Brauch

Der Menschen, dieser geht, ein andrer kommt.

Den Berg, der aus der Flut am höchsten ragt,

Bewohnt' ich, reinen und gefallnen Lebens,

Vom Morgen bis zur Stunde, die der sechsten

Nach dem Quadrantentausch der Sonne folgt. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 389-393.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon