Vierter Gesang

[297] Bevor ein freier Mann von zweien Speisen,

Die ihm gleich nah sind und gleich sehr ihn reizen,

Zum Mund die eine führte, stürb' er Hungers.

So stünd' ein Lamm auch zwischen zweien Wölfen

Blutdürst'ger Gier, in gleicher Furcht vor beiden;

Also ein Hund inmitten zweier Hirsche.

Drum, wenn von meinen Zweifeln gleicherweise

Bedrängt, ich schwieg; will ich mich weder loben,

Noch tadeln; tat ich doch so, weil ich mußte.

Und wenn ich schwieg, so stand mir im Gesichte

Mein Wunsch geschrieben, und mit ihm die Bitte

Viel dringender als in gesprochnen Worten.

Wie Daniel Nebucad Nezar tat,

Den Zorn, der ungerechterweis' ihn grausam

Gemacht, besänftigend, so tat Beatrix.

Sie sprach: Wohl seh' ich, wie dich so der eine

Und andre Wunsch ergriff, daß dein Verlangen,

Sich selber fesselnd, nicht nach außen durchdringt.

Du folgerst also: Wenn der gute Wille

Nur bleibt, mit welchem Recht kann dann die fremde

Gewalttat des Verdienstes Maß mir mindern?

Und ferner bietet dir zum Zweifel Anlaß,

Daß, folgen Plato's Meinung wir, die Seelen

Zurückzukehren zu den Sternen scheinen.

Das sind die Fragen, die auf deinem Willen

Gleichmäßig lasten, und zuerst will ich

Die lösen, die am meisten Galle birgt.

Der Seraph, der in Gott am tiefsten schaute,

Auch Moses, Samuel und wen von beiden

Johannes' du auch wählst, ja selbst Maria,

Es sind in keinem andren Himmel ihnen

Die Sitze zugeteilt, als diesen Geistern,

Auch hat ihr Sein nicht mehr, noch minder Jahre;[298]

Nein, alle schmücken sie den ersten Himmel.

An Seligkeit verschieden sind sie darin,

Daß Gottes Hauch sie mehr und minder spüren.

Hier zeigten sie sich, nicht weil diese Sphäre

Für sie bestimmt ist; als die niedrigste,

Ist Sinnbild sie für ihres Schauens Umfang.

Zu solchem Ausdruck nötigt eu'r Verständnis,

Das von den Sinnen erst empfangen muß,

Was sich das Denken dann zueignen soll.

Darum läßt sich zu eurer Fähigkeit

Die heil'ge Schrift herab, wenn Gott sie Füße

Und Hände beilegt, und es anders meinet.

So stellt euch Michael und Gabriel

Gleich dem, der Heilung dem Tobias brachte,

In menschlicher Gestalt die Kirche dar.

Doch, was Timaeus von den Seelen aussagt,

Ist dem nicht ähnlich, was du hier gesehn hast,

Wenn er es so meint, wie er scheint zu sagen.

Er sagt: zurück zu ihrem Sterne kehre

Die Seel', als hätte sie Natur von dort

Entlehnt, als eines Leibes Form sie wurde.

Doch kann es sein, daß anders seine Meinung

Als wie die Worte lauten ist, so daß

Sie, recht verstanden, keinen Spott verdienet.

Meint er, der Ruhm für ihren Einfluß falle,

So wie der Tadel, heim an diese Räder,

So trifft vielleicht sein Bogen etwas Wahrheit.

Dies falsch verstandene Prinzip verführte

Beinah die ganze Welt einst; Jupiter,

Mars und Merkur als Götter anzurufen.

Der andre Zweifel, welcher dich bedränget,

Ist minder giftig; denn durch seine Bosheit

Kannst abgewandt von mir du nimmer werden.

Scheint ungerecht den Menschenaugen unsre

Gerechtigkeit, so liegt darin ein Zeichen

Des Glaubens und nicht ketzerischer Tücke.[299]

Weil aber eure Fassungskraft gar wohl

Vermag, in diese Wahrheit einzudringen,

Will deinen Wünschen ich Genüge leisten:

Liegt dann nur Zwang vor, wenn, der ihn erduldet,

In nichts dem nachgibt, der Gewalt ihm antut,

So handelten nicht schuldlos diese Seelen.

Der Wille, der nicht will, ist unbezwingbar,

So wie naturgemäß das Feuer aufflammt,

Ob Zwang auch tausendmal es niederbeuge.

Doch, gibt er nach, sei's minder oder mehr,

So leistet Folg' er der Gewalt, wie diese

Als Wiederkehr zum Kloster ihnen freistand.

Wär' ungebeugt ihr Wille fest geblieben,

Gleich dem, der auf dem Rost Laurentius festhielt,

Und Mucius gegen seine Hand verhärtet,

So hätten sie den Weg, den man sie schleppte,

Zurückgetan, sobald sie frei geworden;

Doch wunderselten ist so fester Wille.

Hast diese Worte, du, so wie du solltest

Dir angeeignet, so zerfällt der Einwand,

Der sonst noch öfter dich belästigt hätte.

Jetzt aber tut vor deinen Augen sich

Ein andres Hemmnis auf, und du erlahmtest,

Bevor aus eigner Kraft du dies bezwängest:

Als Wahrheit hab' ich fest dir eingeprägt,

Daß nie ein sel'ger Geist vermag zu lügen,

Weil stets er bei der ersten Wahrheit ist.

Und doch vernahmst du von Piccarda, daß

Constanza's Liebe stets dem Schleier blieb,

Weshalb es scheint, daß sie mir widerspreche.

O Bruder, um Gefahren zu entrinnen,

Tat wider seinen Willen schon so mancher,

Was er verpflichtet war zu unterlassen.

So tötete auf seines Vaters Bitte

Alkmäon seine Mutter, und verletzte

Die Kindespflicht der Kindespflicht zu Liebe.[300]

Erkenne nun, daß sich in solchem Zustand

Gewalt und Wille mischen, und deshalb

Die Übeltaten nicht entschuldbar sind.

Nicht stimmt der Will' an sich dem Unrecht bei,

Doch tut er es insofern, als er fürchtet

Noch größrem Leid durch Weigern zu verfallen.

Deshalb gilt, was Piccarda sagt, vom Willen

An sich, und meine Rede vom bedingten,

So daß wir bei der Wahrheit beide blieben.

So lautete des heil'gen Baches Wallen,

Der aus der Quelle jeder Wahrheit strömte,

Und also ward mein Doppelwunsch befriedigt.

Drauf ich: o Göttliche, der ersten Liebe

Geliebte, so erwärmt und überströmt mich

Eu'r Wort, daß es mich mehr und mehr belebet.

Nicht tief genug ist mein Gefühl, um würdig

Durch Danken eurer Gabe zu entsprechen;

Entspreche der denn, der da schaut und kann.

Wohl seh' ich unser Geist wird nie gesättigt,

Solange nicht die Wahrheit, außer der

Sich keine Wahrheit findet, ihn erleuchtet.

Er ruht in ihr, so wie das Wild im Lager,

Sobald er sie erfaßt hat, und das kann er,

Sonst wär' erfolglos jegliches Verlangen.

Am Fuß der Wahrheit keimet, wie ein Schößling

Der Zweifel, und so fördert die Natur

Von Hügel uns zu Hügel bis zum höchsten.

Das ist es, was mich antreibt, und mir Mut gibt,

Um eine andre, mir noch dunkle, Wahrheit,

O Herrin, ehrerbietig euch zu fragen:

Zu wissen wünsch' ich, ob für unerfüllte

Gelübde so der Mensch durch andre Werke

Genügen kann, daß eurer Wag' es ausreicht? –

Vom Liebesfeuer so vergöttlicht blickten

Mich da die Augen Beatrice's an,[301]

Daß meine Kraft, besiegt, zur Flucht sich wandte

Und fast bewußtlos ich die Blicke senkte.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 297-302.
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