Zweiunddreißigster Gesang

[414] Das Lehramt übernahm freiwillig dieser

Beschauer, noch versenkt in seine Wonne,

Und er begann mit diesen heil'gen Worten:

Die Wunde, die Maria schloß und salbte,

Schlug und vergiftete die du an Schönheit

So reich zu ihren Füßen sitzen siehst.

Es folgt dann in der dritten Sitze Ordnung

Grad' unter jener, und, wie du gewahr wirst,

Zu Beatrice's Seite sitzend, Rahel.

Steigst du von Stufe dann zu Stufe nieder,

Wie ich von einem Rosenblatt zum andren

Die Namen nenne, kannst du Sarah, Judith,

Rebecca und des Sängers Ältermutter

Erkennen, der im Schmerz ob seiner Sünden,

O Herr, erbarme meiner dich! gesprochen.

Und von der siebenten der Stufen nieder,

Wie bis zu ihr, sind nur Hebräerinnen,

Die dieser Blume Lockenbau zerteilen,

Indem, je nach der Art, in der der Glaube

Auf Christum blickte, sie die Mauer bilden,

Die diese heil'gen Stufen unterscheidet.

Auf dieser Seite, wo in allen Blättern

Die Blume reif ist, fanden ihren Platz

Die an den Christus der Verheißung glaubten.

Zur andren, wo von Lücken unterbrochen

Die Plätze sind, verweilen, die die Blicke

Dem schon gekommnen Christus zugewendet.

Und so wie diesseits der erhabene Sitz

Der Himmelsherrin, und die andren Stühle

Grad' unter ihrem, solche Scheidung bilden,[414]

So tut es jenseits der des großen Täufers,

Der, immer heilig, Wüst und Martertod

Und dann zwei Jahre lang die Höll' erduldet.

Und unter ihm bewirken diese Scheidung

Franciscus, Benedict und Augustinus

Und andre bis hierher von Kreis zu Kreise.

Sieh nun die Höhe göttlicher Voraussicht,

Da die und jene Art des gläub'gen Schauens

Gleichmäßig diesen Garten füllen wird.

Vernimm auch, daß von jener Stufe abwärts,

Die die zwei Scheidewänd' inmitten schneidet,

Man nicht aus eignem, sondern nur aus fremdem

Verdienst bedingungsweise Platz gewinnt;

Denn frei vom Körper wurden all' die Seelen,

Eh' zwischen Bös' und Gut sie wählen konnten.

Erkennen kannst du's wohl an ihren Zügen

Und ebenso auch an den Kinderstimmen,

Betrachtest du sie recht und hörst auf sie.

Nun zweifelst du, und trotz des Zweifels schweigst du;

Doch will den festen Knoten ich dir lösen,

In den dein Denken grübelnd dich verstrickte.

In dieses Reiches schrankenloser Weite

Ist für Zufälliges kein Raum zu finden,

So wenig als für Trauer, Durst und Hunger.

Denn, was du siehst, durch ewiges Gesetz

Ward es vorherbestimmt, darum entspricht es

Genau einander, wie der Ring dem Finger.

So ist auch diese, zu dem wahren Leben

Früh abgerufne, Schar nicht ohne Ursach

Hier an Vollendung unter sich verschieden.

Der hohe König, der dies Reich befriedet

Mit solcher Liebesfüll' und solcher Wonne,

Daß höher sich kein Wünschen je vermaß,

Begabt, indem vor seinem heitren Antlitz

Er sie erschafft, verschiedentlich die Seelen

Mit Gnaden; daß es also sei, genüge.[415]

Ausdrücklich sagt euch dies mit klaren Worten

Die heil'ge Schrift, der Zwillinge gedenkend,

Die in der Mutter Schoß einander zürnten.

Darum bekränzen sich, je nach der Färbung

Der Haare solche Gnade, diese Seelen

Der Würdigkeit gemäß mit höchstem Lichte.

So sind denn ohne sittliches Verdienst

Verschiedne Plätze ihnen angewiesen;

Doch ungleich ist nur ihre erste Sehkraft.

In frühesten Jahrhunderten genügte,

Damit man Heil erlange, neben eigner

Unschuld, daß nur die Eltern gläubig waren.

Als abgelaufen war der erste Zeitraum,

Da mußte dem unschuldigen Gefieder

Beschneidung neue Kraft zum Fliegen leihn.

Doch als gekommen war die Zeit der Gnade,

Ward solche Unschuld, hatte Christi Taufe

Sie nicht empfangen, drunten festgehalten.

Nun schaue in das Antlitz, welches Christo

Am meisten gleich; denn seine Klarheit nur

Kann dich bereiten, Christum selbst zu schauen. –

Und regnen sah auf sie ich soviel Freude,

Gehegt in jenen heil'gen Geistern, welche

Geschaffen wurden zu so hohem Fluge,

Daß, was ich auch bis dahin wahrgenommen

Mit solchem Staunen nimmer mich befangen

Und mir solch Gottes Abbild nicht gezeigt.

Und es entfaltete vor ihr die Flügel

»Ave Maria, gnadenvolle«, singend

Die Liebe, die zuerst dorthin herabstieg.

Darauf erwiderte von allen Seiten

Den göttlichen Gesang der Hof der Sel'gen,

So daß sich jedes Antlitz drob verklärte.

O heil'ger Vater, der du meinetwillen

Hier unten weilst, den süßen Ort verlassend,

Den du nach ewiger Bestimmung einnimmst,[416]

Wer ist der Engel, der mit solchem Spiele

Der Himmelskönigin in's Auge schaut,

So liebeglühend, daß er Feuer scheint? –

Belehrung sucht' ich so bei dessen Kunde,

Der sich verschönte an Maria's Anblick,

Wie an der Sonne tut der Morgenstern.

Und er zu mir: In ihm ist soviel Kühnheit

Und Anmut, als in Engel oder Seele

Nur immer sein kann, und so wünschen wir's.

Ist er es doch, der zu Marie'n hernieder

Die Palme brachte, als sich Gottes Sohn

Mit unsrer Sünden Last beladen wollte.

Nun aber folge, wie ich reden werde,

Mit deinem Blick, und merke die Patrizier

Von diesem frommen und gerechten Reiche.

Die Zwei dort oben, deren Glück das höchste,

Weil sie der Königin am nächsten sitzen,

Sind gleichsam die zwei Wurzeln dieser Rose.

Der dort zur linken Seite sich ihr anfügt

Ist jener Vater, deß verwegnes Schmecken

Das menschliche Geschlecht so bitter nachschmeckt.

Zur rechten Seite sieh den alten Vater

Der heil'gen Kirche, dem die Schlüssel Christus

Zu dieser schönen Blume anempfahl.

Und der, bevor er starb, die schweren Zeiten

Der schönen Braut, die mit den Nägeln und

Dem Speer erworben wurde, alle sah,

Sitzt neben ihm, wie neben jenem andren

Des Führers Sitz ist, unter dem von Manna

Das störrig undankbare Volk gelebt.

Sieh Petrus gegenüber Anna sitzen,

Die in der Tochter Anschaun so beglückt ist,

Daß auch beim Hosianna sie nicht wegsieht.

Der Stammeshäupter ält'stem gegenüber

Siehst du Lucìa, welche deine Herrin,

Als fliehend du die Wimpern senktest, sandte.[417]

Weil aber deines Schlummers Zeit entflieht,

So halt ich ein, wie ein bedächt'ger Schneider,

Je nach dem Tuche, das er hat, den Rock macht.

So woll'n die Augen denn zur ersten Liebe

Wir richten, daß im Dorthinschauen du

In ihren Glanz soviel als möglich dringest.

Doch wahrlich, soll dein Flügelschlagen rückwärts,

Statt vorwärts, wie du wähntest, dich nicht bringen,

So muß Gebet erst Gnade dir erwirken:

Die Gnade deren, die zu helfen Kraft hat.

So folge mir denn mit der rechten Inbrunst,

Daß sich dein Herz von meinem Wort nicht trenne. –

Und dieses heilige Gebet begann er:

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 414-418.
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