[27] So stieg ich nieder von dem ersten Kreise
Zum zweiten, der gering'ren Raum umfaßt,
Doch um so größ're Qual, die Klagen auspreßt.
Graunvoll steht Minos hier und fletscht die Zähne,
Er prüft die Sünder einzeln, wie sie kommen,
Verurteilt sie, und bannt sie durch Umwinden.
Ich sage: wenn die schlimmgeborne Seele
Ihm gegenübersteht, bekennt sie alles;
Er aber, als ein Kenner jeder Sünde,
Erwäget, welcher Höllenplatz ihr zukommt:
Umwindet mit dem Schwanz so manches Mal sich,
Als Stufen sind, die sie soll niedersteigen.
Gar viele stehn vor ihm zu jeder Zeit,
Und nacheinander gehn sie in's Gerichte,
Bekennen, hören, wenden sich zur Tiefe.
Du, der da kommt zum schmerzensvollen Hause,
Sprach Minos, als er mich erblickt, zu mir,
Des Richteramtes Übung unterbrechend,
Sieh, was du tust, und wem du dich vertrauest;
Laß dich nicht täuschen durch des Eintritt's Weite. –
Mein Meister sagte drauf: Was soll dein Schelten?
Verhindre nicht die vorbestimmte Reise.
So will man's droben, wo jedwedes Wollen
Zugleich ein Können ist; nicht frage weiter. –
Doch nun beginnen herben Schmerzes Laute
Vernehmlich mir zu werden; nun gelang ich
Dahin, wo vieles Wehgeschrei mein Ohr trifft.
Verstummt war alles Licht in diesem Raume,
Der gleich dem sturmbewegten Meere brüllet,
Wenn es die Wind' im Widerstreit bekämpfen.[27]
Der höllische Orkan, der nimmer nachläßt,
Erfaßt mit seiner Windsbraut diese Geister,
Wirft qualvoll sie umher, stößt sie zusammen.
Wenn sie alsdann zum Absturz hingelangt sind,
So schrei'n sie laut, wehklagend unter Tränen,
Und lästern Gott zugleich und seine Allmacht.
Und ich erfuhr, es sei'n zu solchen Qualen
Verurteilt, die in Fleischeslust gesündigt,
Weil die Vernunft dem Trieb sie unterworfen.
Und wie zur kalten Zeit ihr Flügelpaar
Die Stare hinführt in gedrängter Menge,
So führt der Windshauch hier die argen Geister.
Er jagt sie hin und her, hinauf, hinab,
Und keine Hoffnung bietet ihnen Trost
Geringrer Pein, geschweige denn der Ruhe.
Gleich wie die Kraniche wehklagend ziehn,
Und lange Streifen in der Luft beschreiben,
So sah, getragen von der Macht des Windes,
Ich eine Schar mir nahn mit lautem Weinen.
Zu meinem Meister sagt' ich drum: Wer sind
Die Schatten, die die schwarze Luft so geißelt? –
Die vorderste der Schar, von welcher Kunde
Du wünsch'st, entgegnete darauf mir jener,
Beherrschte Völker von gar vielen Sprachen
Der Wollust Laster war sie so ergeben,
Daß durch Gesetz sie jede Lust erlaubte,
Die Schmach zu tilgen, welcher sie verfallen.
Sie ist Semiramis, von der wir lesen,
Daß sie, des Ninus Gattin, ihn beerbte.
Das Land beherrschte sie, das jetzt des Sultan's.
Die nun folgt, ist's die sich aus Lieb' ermordet
Und Treu' gebrochen des Sichäus Asche.
Dann kommt Cleopatra, die glutentbrannte. –
Helena sah ich, die so langes Unheil
Verursacht, und Achilles auch, den großen,
Der noch zuletzt mit Liebe kämpfen mußte.[28]
Paris und Tristan und wohl tausend zeigte
Virgil, sie mir benennend, mit dem Finger,
Die uns'rer Welt die Lieb entrissen hat.
Als mir die Frau'n der Vorzeit und die Ritter
Namhaft gemacht von meinem Meister waren,
Ergriff mich Mitleid, daß ich kaum bewußt blieb.
Drauf sagt' ich zu dem Führer: Gern spräch ich
Mit jenen Zwei'n, die sich zusammenhalten,
Und die so leicht bewegt vom Wind' erscheinen. –
Und er darauf: Beschwörst du, wenn erst näher
Sie uns gekommen sind, sie bei der Liebe,
Die sie vereint, so zweifle nicht, sie kommen. –
Sobald der Wind sie zu uns hergewendet,
Erhob die Stimm' ich: Schmerzbeladene Seelen,
Ist's nicht verwehrt, so kommt, mit uns zu reden. –
Wie Tauben, die, gerufen vom Verlangen
Zum süßen Nest, mit ausgespannten Schwingen
Die Luft durchschneiden, so sah ich die beiden,
Kraft ihres Willens, durch die schlimme Luft
Sich aus der Schar, wo Dido weilt, uns nahen;
So wirksam war mein anteilvolles Rufen.
O wohlgesinntes, liebereiches Wesen,
Das du, die Nacht der Unterwelt durchwandelnd,
Uns heimsuchst, die mit Blut die Erde färbten,
Wär' unser Freund des Weltgebäudes König,
So wollten wir ihn flehn um deinen Frieden,
Weil du mit uns'rem Elend Mitleid fühlest.
Anhören und euch sagen woll'n wir alles,
Was du zu reden und zu hören wünschest,
So lang der Wind noch, wie er itzt tut, schweiget.
Gelegen ist der Ort, wo ich geboren,
Am Meeresstrand, zu dem der Po hinabsteigt,
Um mit den Nebenflüssen Ruh' zu finden.
Die Liebe, leicht entflammend edle Herzen,
Entflammte diesen für den schönen Körper,
Der mir geraubt ward, und das wie quält noch mich.[29]
Die Liebe, die zur Gegenliebe nötigt,
Ließ mich an ihm solch Wohlgefallen finden,
Daß, wie du siehst, sie noch nicht von mir abläßt.
Die Liebe führt' uns zu vereintem Tode;
Caïna wartet des, der uns gemordet. –
So lautete, was sie zu uns gesprochen.
Als die unsel'gen Geister ich vernommen,
Senkt' ich das Haupt, und hielt es so geneiget
Bis mir der Meister sagte: Nun, was sinnst du? –
Darauf erwidernd, hub ich an: O Himmel,
Wie mancher stille Liebeswunsch, wie manches
Verlangen führte sie zum Schritt voll Schmerzes! –
Dann wendet' ich mich ihnen zu und sagte:
Francesca, deiner Qualen Anblick macht
Vor Trauer mich und vor Mitleiden weinen.
Doch sage mir, zur Zeit der süßen Seufzer,
An was und wie gestattete dir Amor,
Das schüchterne Verlangen zu erkennen? –
Drauf sagte sie zu mir: Kein Schmerz ist größer,
Als sich der Zeit des Glückes zu erinnern,
Wenn man in Elend ist; das weiß dein Lehrer.
Heg'st du jedoch, die Wurzel uns'rer Liebe
Zu erkennen, solch entschiedenes Verlangen,
So werd' ich tun, wie wer im Reden weinet:
Wir lasen eines Tages zum Vergnügen
Von Lanzelot, wie Liebe ihn umstrickte,
Allein und unbeargwohnt waren wir.
Oft hieß des Buches Inhalt uns einander
Scheu ansehn und verfärbte unsre Wangen;
Doch nur ein Punkt war's, welcher uns bewältigt.
Denn als wir, wie das langersehnte Lächeln
Von solchem Liebenden geküßt ward, lasen,
Da küßte, dem vereint ich ewig bleibe,
Am ganzen Leibe zitternd, mir den Mund.
Zum Kuppler ward das Buch und der's geschrieben.
An jenem Tage lasen wir nicht weiter. –[30]
Und während so der eine Schatten sprach,
Vergoß der andre solchen Strom von Tränen,
Daß ich ohnmächtig ward, wie wen ich stürbe,
Und nieder fiel ich, wie ein toter Körper.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.
278 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro