Neunundzwanzigster Gesang

[121] So trunken waren von dem vielen Volke

Und den verschiednen Wunden meine Augen,

Daß sie sich sehnten, ruhend auszuweinen.

Mein Meister aber sprach: Was schaust du noch,

Was haftet unverwandt dein Blick dort unten

Bei den verstümmelten unsel'gen Schatten?

In andren Bolgien tatest du nicht also

Vernimm, willst du, die hier im Tal sind, zählen,

Daß zweiundzwanzig Miglien es umkreiset.[121]

Schon steht der Mond grad' unter unsren Füßen,

Nur wenig Zeit ist jetzt uns noch verstattet

Und manches bleibt zu sehn, das du noch nicht sahst. –

Wenn du den Grund beachtet hättest, sagt' ich

Darauf, der mich bewog hinabzublicken,

Das Weilen hättest du vielleicht gestattet. –

Schon ging mein Führer und ich folgt' ihm nach,

Als ich ihm diese Antwort gab, und weiter

Fügt' ich hinzu: In jener dunklen Grube,

Wohin ich eben stier mein Auge wandte,

Glaub' ich, beweint ein Geist von meinem Blute

Die Sünde, die so teuer hier bezahlt wird. –

Da sprach zu mir mein Meister: Es bekümmre

Nicht fürder seinethalb sich dein Gedanke:

Er bleibe wo er ist, merk du auf andres;

Denn an dem Fuß der Brücke sah ich ihn,

Dich, heftig drohend, mit dem Finger zeigen,

Und Geri hört' ich ihn del Bello nennen.

Du warst von dem, der Hautefort besessen,

Damals so ganz gefesselt, daß nicht eher

Du ihn gewahrtest, als bis er davon ging. –

O Führer, der an ihm verübte Mord,

So rief ich aus, den bis zur Stunde keiner,

Auf den die Schande mitgefallen, rächte,

Erweckte seinen Zorn, und drum vermut' ich,

Ging er vorüber, ohn' ein Wort an mich;

Mich aber faßt darob erhöhtes Mitleid. –

So sprachen wir bis wo der Fels zuerst

Das nächste Tal, wär's heller nur gewesen,

Uns bis zum Grunde hätte sehen lassen.

Wir standen oberhalb der letzten Klause

Der Malebolge, deren Laienbrüder

Sich unsrem Blick nun offenbaren konnten.

Da stürmten, Pfeilen ähnlich, deren Spitzen

Mitleid bewehrt, viel Klagen auf mich ein,

Weshalb die Ohren mit der Hand ich deckte.[122]

So vieles Leiden als beisammen wäre,

Wenn man in eine Gruft mit der Spitäler

Des Chianatals vom Juli bis September

Maremma's und Sardiniens Seuchen brächte,

So viel war hier, und solcher Stank erhob sich,

Als aus Gliedmaßen, welche eitern, aufsteigt.

Wir stiegen, immerdar nach links gewandt,

Zum letzten Strand des langen Felsens nieder,

Und klarer sah ich da in jene Tiefe,

In der die Dienerin des hohen Herrschers,

Die nie zu täuschende Gerechtigkeit,

Die Fälscher, die sie hier schon einschrieb, strafet.

Nicht trauriger, vermut' ich, war der Anblick,

Das ganze Volk Aegina's krank zu sehn,

Als so verpestet war der ganze Dunstkreis,

Daß, was da lebte, bis zum kleinsten Wurme

Tot niederfiel, und dann sich die Bewohner,

Wie uns als Wahrheit melden die Poeten,

Aus der Ameisen Samen neu ergänzten!

Nicht traur'ger, als in diesem Tal die Geister

Zu sehn, wie haufenweise sie verlechzten.

Auf seinem Bauch lag der, ein zweiter stützte

Sich auf des andren Schultern, jener schlich

Den traur'gen Pfad dahin auf allen Vieren.

Langsamen Schrittes gingen wir und schwiegen;

Doch sah'n und hörten wir auf jene Kranken,

Die nicht vermochten sich emporzurichten.

Und aneinander sah ich zwei sich stützen,

Wie Tiegel man an Tiegel stützt beim Wärmen,

Vom Haupt bis zu dem Fuß bedeckt mit Schörfen.

Nie sah ich einen Knecht, der ungern wach bleibt,

Nie einen, dessen Dienstherr auf ihn wartet,

Den Striegel in so großer Hast bewegen,

Als jeder dieser beiden, ob der Qual

Des Juckens, die er so nur weiß zu lindern,

Am Leibe mit den Nägeln hin- und herfuhr.[123]

Und wie ein Messer Schuppen streift vom Karpfen

Und andren Fischen, die noch größre haben,

So rissen jene Nägel ab die Schörfe.

Der mit den Fingern du dich selbst zerfleischest,

Begann zu einem jener zwei mein Meister,

Und öfters auch als Zange sie gebrauchest,

Soll dir in Ewigkeit zu solcher Arbeit

Dein Nagel g'nügen, so erteil' uns Auskunft,

Ob irgendein Lateiner ist hierinnen. –

Wir beid', erwidert' unter Tränen einer,

Die du so schwer entstellt siehst, sind Lateiner;

Doch du, der nach uns frugest, sprich, wer bist du? –

Von Stufe, sagte drauf Virgil, zu Stufe

Steig' ich mit diesem, der noch lebt, hernieder,

Denn mir liegt ob, die Hölle ihm zu zeigen. –

Da brach die Wechselstützung auseinander;

Erzitternd blickten nur nach mir die beiden

Und alle die's zur zweiten Hand vernommen.

Drauf wandte sich zu mir der gute Meister

Und sagte: Sprich zu ihnen was dir gut dünkt. –

Und ich begann, so wie er mir geheißen:

Soll eu'r Gedächtnis in der ersten Welt

Der menschlichen Erinn'rung nicht entschwinden

Und weiter leben unter vielen Sonnen,

So sagt mir, wer ihr seid und welchen Stammes;

Die ekle Strafe, die ihr duldet hindre

Euch nicht an eures Namens Offenbarung. –

Ich stamme von Arezzo, sprach der eine,

Verbrennen ließ mich Albero von Siena;

Doch starb ich nicht für das was mich hierher führt.

Wohl sagt' ich, doch im Scherze, daß ich fliegend

Mich aufzuschwingen in die Luft vermöchte;

Einfältig und voll Neugier wollte jener,

Daß ich die Kunst ihm lehr', und weil ich nicht

Zum Dädalus ihn machte, ließ zum Holzstoß

Er mich durch den, der ihn als Sohn hielt, schicken.[124]

Weil aber droben Alchimie ich übte

Hat Minos, der sich nimmer täuscht, zur letzten

Von den zehn schlimmen Bolgien mich verurteilt. –

Zum Dichter sagt' ich drauf: Sah man wohl jemals

Ein Volk leichtsinnig so wie die Sanesen?

Selbst die Franzosen sind's um vieles minder. –

Der andre Sücht'ge, der mein Wort vernommen,

Erwiderte darauf: Doch nimm den Stricca,

Der so bescheidnen Aufwand machte, aus,

Auch Nicolò nimm aus, der in dem Garten,

Wo solche Saat gedeiht, der Nägelein

Kostspieliges Rezept erfunden hat.

Nimm die Gesellschaft aus, in welcher Caccia

D'Asciano mit dem großen Wald den Weinberg

Und Abbagliato seinen Ruf vergeudet.

Doch, daß du wissest, wer so mit dir einstimmt

Im Tadel der Sanesen, sieh mich scharf an,

So daß mein Angesicht dir Antwort gebe.

Erkennen wirst du dann Capocchio's Schatten,

Der ich durch Alchimie Metalle fälschte,

Und, seh' ich anders recht, muß dir bewußt sein,

Daß ich ein guter Affe der Natur war. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 121-125.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon