Sechster Gesang

[31] Bei des Bewußtseins Rückkehr, welches Mitleid

Mit den zwei Schwägern mir genommen hatte

Und mir das Herz erfüllt mit Traurigkeit,

Seh' ringsum neue Qualen ich und neue

Gequälte, wohin auch den Blick ich wende,

Wohin ich schaue und wohin mich kehre.

Ich bin im dritten Kreise, dem des ewgen,

Verwünschten, kalten, qualenvollen Regens,

Des Art und Weise nimmer sich verändert.

Grobkörn'ger Hagel, Schnee und trübes Wasser

Fällt rastlos durch die finstre Luft hernieder;

Der Boden stinkt, der solch Gemenge aufnimmt.

Und Cerberus, das Untier sondergleichen,

Bellt aus drei Rachen, so wie Hunde pflegen,

Die Schatten an, die dort am Boden liegen.

Rot ist sein Auge, schwarz der Bart und schmierig,

Der Bauch geschwollen, krallig sind die Hände;

Er kratzt die Geister, schindet und zerfleischt sie.

Der Regen macht sie heulen als wie Hunde;

Oft wenden sich die elenden Verfluchten,

Daß eine Seite Schutz der andern biete.

Als Cerberus uns sah, der große Wurm,

Riß er die Rachen auf, zeigt' uns die Zähne,

Und seiner Glieder keines hielt er stille.

Mein Meister öffnete die beiden Hände,

Griff Erdreich auf, und mit gefüllten Fäusten

Warf er hinein es in die gier'gen Schlünde.

Dem Hunde gleich, der im Heißhunger belfernd,[31]

Wenn er den Fraß gepackt hat, sich beruhigt,

Und ihn nur zu verschlingen strebt und trachtet,

So wandelten sich die unsaubern Schnauzen

Des Teufels Cerberus, der jene Seelen

So anbellt, daß sie wünschten taub zu sein.

Fort ging es durch die Schatten, die der Regen

Danieder hält; es traten uns're Sohlen

Auf ihre Nichtigkeit, die Wesen scheinet.

Sie lagen hingestreckt am Boden alle;

Nur einer richtete sich eilend auf,

Als er uns sah, wie wir vorübergingen.

Der du geführet wirst durch diese Hölle,

Erkenne mich, sprach er, wenn du's vermagst;

Begann dein Leben doch, eh mein's geendet. –

Ich sagte drauf: Die Qual, die du erduldest,

Entfremdet dich vielleicht so der Erinnerung,

Daß es mich dünkt, ich sah zuvor dich nimmer.

Doch nenne dich, dem solch unsel'ge Stelle

Beschieden ist, und eine Strafe, welche,

Wenn größer nicht, doch ekler ist als alle. –

Drauf sagt' er: Deine Stadt, die so von Neide,

Erfüllt ist, daß der Sack zu bersten droht,

Umfaßte mich dereinst im lichten Leben.

Ihr Stadtgenossen nanntet mich nur Ciacco,

Weil ich ergeben war der Schlemmerei,

Und wie du siehst, zernagt mich itzt der Regen.

Auch bin ich nicht allein hier, so zu trauern;

Nein, alle dulden wir die gleiche Strafe

Aus gleicher Ursach. – Und damit verstummt' er.

Ich sagte drauf: O Ciacco, deine Qual

Rührt mich so sehr, daß ich dem Weinen nah bin;

Doch sage mir, wenn du es weißt, welch' Ende

Der zwiegespalt'nen Bürger Streit nimmt, sage,

Ob einer dort gerecht ist, und warum

Die Stadt von solcher Zwietracht ist befallen. –

Darauf erwidert' er: Nach langem Hader[32]

Fließt endlich Blut, und die Partei der Fremden

Vertreibt die andre, vielfach sie beschäd'gend.

Dann, eh' drei Jahre schwinden, fällt sie wieder,

Und jene andre trägt den Sieg davon

Durch dessen Hilfe, der jetzt noch laviert.

Hoch wird sie lange Zeit die Stirne tragen,

Und schwere Last auf die besiegte häufen,

Wie groß für diese Scham und Schmerz auch seien.

Gerecht sind zwei; doch unverstanden sind sie.

Die Funken, welche jedes Herz entzündet,

Sind Neid und Geiz mit Hochmut im Vereine. –

Hier endet' er die schmerzensvolle Rede.

Ich aber sprach: Belehre mich noch weiter

Und schenke mir noch mehr von deiner Rede:

Tegghiaio und Farinata, jene Wack'ren

Jacopo Rusticucci, Arrigo, Mosca,

Die andren auch, die recht zu handeln strebten:

Sag' an, wo sind sie? Laß mich sie erkennen;

Denn groß Verlangen heg' ich, zu vernehmen,

Ob Höllengift, ob Himmelssüß' ihr Los ist. –

Und er darauf: Verschiedenart'ge Schuld

Stieß tiefer sie hinab zu schwärz'ren Schatten;

Steigst du so weit hinab, kannst du sie sehen.

Doch, bist du heimgekehrt zur schönen Welt,

So rufe mich den Leuten ins Gedächtnis.

Mehr sag' ich nicht, noch geb' ich weiter Antwort. –

Den graden Blick verdreht' er nun zum Schielen;

Sach mich ein Weilchen an, den Kopf dann senkt' er

Und fiel zu Boden gleich den andren Blinden.

Der Meister sprach: Der steht nicht wieder auf

Bis die Posaun' am letzten Tag' ertönet,

Und die Gewalt erscheint, die ihnen feindlich.

Sein unheilvolles Grab sucht jeder dann,

Sein Fleisch und sein Gebein nimmt er zurück,

Was ewig wiederhallen wird, zu hören. –

Indes durchgingen wir langsamen Schrittes[33]

Der Schatten und des Regens schmutz'ge Mischung,

Das künft'ge Leben im Gespräch berührend.

Den Meister fragt ich: Werden diese Qualen

Noch wachsen nach dem großen Richterspruch,

Wird Mind'rung folgen, oder gleich sie bleiben? –

Drauf er: Gedenke deiner Wissenschaft,

Die jedem Ding, im Maß als es vollkommner,

Mehr Sinn für Freuden, wie für Schmerzen beimißt.

Ob niemals gleich dies fluchbeladene Volk

Zu wirklicher Vollkommenheit gelangt,

Wird wesenhafter doch nach jenem Tag' es. –

In weitem Bogen gingen wir die Straße,

Besprechend manches, das ich nicht berichte.

Und angelanget, wo der Weg hinabführt,

Erblickten Pluto wir, den großen Feind.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 31-34.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon