Achtundzwanzigster Gesang

[259] Den dichten Gotteswald, den lebensfrischen,

Der meinem Aug' das Licht des Tages dämpfte,

Ringsum und innen zu durchspähn verlangend,

Verließ ich ohne Zaudern nun den Bergrand,

Und auf dem Plan, dem Duft ringsum entströmte,

Durchwandelt' ich die Flur langsamen Schrittes.

Ein süßer Luftzug, frei von jedem Wechsel

In seinem Hauch, berührte mir die Stirne,

Nicht stärker als das Wehen leisen Windes.

Es neigten sich, davon gelind' erzitternd,

Die Blätter allesamt nach jener Seite,

Nach der des Berges erster Schatten fällt;

Doch sie entfernten von der graden Richtung

Sich so nicht, daß in Übung ihrer Kunst

Gestört die Vöglein auf den Wipfeln wären.

Nein, freudig grüßten sie die Morgenstunde

Mit Lobgesang, verborgen in dem Laube,

Das summend ihrem Lied als Grundbaß diente,

So wie im Pinienwald von Zweig zu Zweige

Es rauschet dort am Meeresstrand von Chiassi

Wenn den Scirocco Aeolus entfesselt.

Schon hatten, die ich langsam tat, die Schritte

So weit mich in den alten Hain getragen,

Daß meines Eintritts Ort ich nicht mehr sah,

Als mir ein Bach das Weitergehn verwehrte,

Von dessen kleinen Wellen sich die Gräser,

Die ihm am Ufer sproßten, linkshin neigten.

Das lauterste der Wässer hier auf Erden

Getrübt erscheinen würd' es gegen dieses,[259]

Das nichts von dem verbirgt, das es bedecket,

Obwohl in tiefem Dunkel es dahinfließt

Des ew'gen Schattens, der dorthin zu strahlen

Der Sonne nie und nie dem Mond verstattet.

Wohl stand mein Fuß; jedoch es überschritten

Den Fluß die Augen um der frischen Maien

Zahllose Mannigfaltigkeit zu schauen.

Da sah ich, wie man plötzlich wohl gewahr wird

Was durch das Staunen, das es in uns wachruft,

Verscheucht jedweden anderen Gedanken,

Ein holdes Weib, die einsam vor sich hinging

Und singend unter all den Blüten wählte,

Die ihren Weg mit bunten Farben malten.

O schönes Weib, die an der Liebe Strahlen

Du dich entflammst, darf ich dem Aussehn glauben,

Das von dem Herzen Zeugnis pflegt zu geben,

Gefall' es dir, zu diesem Bache näher

Heranzutreten – so sprach ich sie an –

Damit ich was du singst, vernehmen möge.

Du mahnst mich, wie und wo Proserpina

Zu jener Stunde war, als sie der Mutter

Verloren ging, und ihr der Blütenfrühling. –

So wie beim Tanze sich ein Mägdlein wendet,

Die Sohlen hart am Grund und aneinander,

Und einen Fuß kaum vor den andren setzet,

So wandte auf den rot und gelben Blumen

Sie sich zu mir, der Jungfrau, welche sittsam

Den Blick zu Boden schlägt, in allem gleichend.

Und also sich mir nähernd, daß des süßen

Gesanges Wortverständnis mich erreichte,

Gewährte meinen Bitten sie Erfüllung.

Als dorthin sie gelangt war, wo die Gräser

Schon von dem Naß des schönen Bach's benetzt sind,

Schlug sie, mich zu erfreun, die Augen auf.

Ich glaube nicht, daß unter Venus' Wimpern,

Als sie der Sohn, ganz wider seine Weise,[260]

Verwundet hatte, solch ein Licht erglänzte.

Sie lächelte von jenem rechten Ufer,

Der Farben, welche samenlos dies Hochland

Hervorbringt, mehr noch mit den Händen sammelnd.

Nur um drei Schritte trennte uns das Flüßchen;

Doch von Leander ward der Hellespont

Nicht mehr gehaßt, weil da, wo Xerxes ihn

(Ein Zaum für Menschenstolz) einst überschritten,

Er zwischen Sestos und Abydos brandet,

Als dies von mir, weil sich's nicht vor mir auftat.

Neulinge seid ihr hier – also begann sie –

Und weil an diesem Orte, der zum Neste

Der Menschheit auserkoren ward, ich lächle,

Verwundert ihr euch wohl und tragt Bedenken

Der Psalm: »Du lässest, Herr, mich fröhlich singen«

Gibt aber Licht und scheucht des Geistes Nebel.

Und du, der Vordre, der du mich gebeten,

Sag' an, was du noch hören willst; bereit,

All deinen Fragen zu genügen, kam ich. –

Das Wasser, sprach ich, und des Waldes Rauschen

Bekämpfen in mir, was ich, dem zuwider,

Erst jüngst vernommen habe und geglaubt. –

Drauf sagte sie: Wie das, was dich verwundert,

Sich zuträgt, und warum will ich dir künden,

Und so den Nebel, der dich drückt, zerstreuen.

Das höchste Gut, das selbst nur sich genügt,

Schuf gut den Menschen und zum Heil, und schenkte

Ihm diesen Ort als Pfand des ew'gen Friedens.

Ob seines Fehltritts weilt' er hier nur wenig,

Ob seines Fehltritts tauscht' er Schmerz und Tränen

Für würd'ges Lächeln ein und süßes Spiel.

Damit die Störung, die nach unten hin

Des Wassers und der Erde Dünste, welche

Der Wärme soviel möglich nachgehn, wirken,

Den Menschen hier in keiner Art beläst'ge,

Erhebt der Berg, von dort ab wo man zuschließt[261]

Von Dünsten frei, so weit sich himmelwärts.

Weil nun die ganze Luft, wenn der Bewegung

Kein Hindernis entgegentritt, im Kreise

Sich dreht, der ersten Himmelswölbung folgend,

So wird von der Bewegung dieser Gipfel,

Der frei hinausragt in die Luft, getroffen

Und Rauschen in dem dichten Hain geweckt.

Und die berührte Pflanz' ist so beschaffen,

Daß sich mit ihrer Kraft die Luft erfüllt,

Die diese, ringsum kreisend, fallen läßt.

Der andre Boden, je nachdem er würdig

Durch sich und seinen Himmel ist, empfängt

Und zeuget Kräuter mannigfacher Art.

So wundr' es euch, nachdem ihr dies vernommen,

Nicht mehr, wenn, ohne daß ihr Samen spürtet,

Zu Zeiten neue Pflanzen bei euch keimen.

Und wissen sollst du, daß von jedem Samen

Die heil'ge Fläche, wo du bist, erfüllt ist,

Und Früchte, die man dort nicht bricht, hervorbringt.

Das Wasser hier entspringt aus keiner Ader,

Die sich ergänzt durch abgekühlte Dünste,

Wie Flüsse tun, die mehr und minder schwillen;

Lebend'gem, wandellosem Quell entstammt es,

Der was er nach den beiden Seiten ausströmt,

So viel zurückempfängt durch Gottes Willen.

Er fließet diesseits mit der Kraft hernieder,

Zu tilgen die Erinnerung der Sünde;

Die guten Taten stellt er jenseits her.

Diesseitig Lethe, jenseits Eunoe

Wird er geheißen, und damit er wirke,

Muß er erst hier, dann dort gekostet werden.

Nichts andres kommt an Wohlgeschmack ihm gleich.

Und könnt' auch, wenn ich dir nicht mehr entdeckte,

Dein Durst befriedigt sein in vollem Maße,

Will einen Zusatz ich aus Gunst dir schenken,

Und minderwert wird schwerlich meine Rede[262]

Dir sein, geht weiter sie als ich verheißen:

Vielleicht, daß die vor Alters goldne Zeiten

Und deren Glück in ihrem Lied geschildert,

Von diesem Ort auf dem Parnasse träumten.

Hier war der Menschheit Wurzel ohne Schuld,

Hier reift jedwede Frucht bei stetem Frühling,

Der Quell hier ist der vielgenannte Nektar. –

Da wandt' ich ganz zu meinen beiden Dichtern

Mich um und sah, wie sie nicht ohne Lächeln

Der Rede letzten Satz vernommen hatten.

Zum holden Weibe kehrt' ich dann das Antlitz.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 259-263.
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