|
[217] Es hatte seine Rede abgeschlossen
Der hohe Lehrer und nun blickt' er forschend
In's Auge mir, ob ich zufrieden scheine.
Doch ich, gestachelt noch von neuem Durste
Schwieg äußerlich und sagte bei mir selber:
Vielleicht beschwert ihn mein zu vieles Fragen. –
Doch der wahrhafte Vater, der erkannte,
Was zaghaft ich begehrte und nicht aussprach,
Gab Mut zum Reden mir durch seine Rede.
Drum sagt' ich: Meister, so belebt mein Schauen
In deinem Licht sich, daß ich klar erkenne,
Was deine Rede schildert und entwickelt.
Drum bitt' ich dich, geliebter, süßer Vater,
Daß du die Liebe mir erklärst, auf welche
Du gute, sowie schlechte Tat zurückführst. –
So richte denn des Geistes scharfes Auge
Auf mich, so sagt' er, und dir offenbart sich
Der Blinden Irrtum, die sich Führer nennen.
Der Wille, von Natur geneigt zum Lieben,
Wird leicht bewegt von allem das gefällt,
Sobald zur Tat ihn das Gefallen weckte.
Von einem wahren Gegenstand entnimmt
Ein Abbild eure Auffassung, entwickelt[217]
Es innerlich und zieht zu ihm den Willen.
Wenn der gezogne dann sich zu ihm hinneigt,
Heißt Liebe dieser Zug und ist Natur,
Die das Gefallen neu mit euch verbunden.
Dann, wie das Feuer sich zur Höhe wendet
Nach seinem Wesen, das dorthin zu steigen
Bestimmt ist, wo sein Stoff am längsten dauert,
Faßt den ergriff'nen Willen ein Verlangen,
Das geistige Bewegung ist, und diese
Ruht nicht, bis sich ihm, was er liebt, gewähret.
Einleuchten kann dir nun, wie tief verborgen
Die Wahrheit denen ist, die da behaupten,
Jedwede Liebe sei an sich schon löblich.
Denn, wenn auch immer gut der Stoff der Liebe
Erscheinen mag, ist doch nicht jedes Siegel
Schon gut, weil es in gutes Wachs gedrückt ward. –
Wohl hat dein Wort und mein folgsames Denken,
Antwortet' ich, die Liebe mir enthüllet;
Doch ward ich drum noch schwangerer an Zweifeln.
Denn, wenn die Liebe uns von außen kommt
Und nur durch sie die Seele sich bewegt,
So ist des Weges Wahl nicht ihr Verdienst. –
Und er zu mir: Was die Vernunft ergründet,
Kann ich dir sagen; weiteres erwarte
Nur von Beatrix, das ist Glaubenssache.
Besondre, ihr nur eigne, Kraft hat jede
Substantielle Form an sich gebunden,
Die frei vom Stoff und doch mit ihm vereint ist.
Man nimmt sie wahr, erst wenn sie sich betätigt;
Ihr Dasein zeigt sie nur in ihrer Wirkung,
Wie grünes Laub des Baumes Leben zeigt.
Drum weiß kein Mensch, woher ihm die Erkenntnis
Der Urbegriffe kam, woher die Neigung
Zu des Verlangens ersten Gegenständen,
Die euch bestimmt, sowie der Trieb die Biene,
Daß Honig sie erzeugt. Solch' erste Neigung[218]
Verdient das Lob so wenig als den Tadel.
Damit nun ihr sich jede andre eine,
Ward angeboren euch des Rates Gabe,
Daß des Entschlusses Schwelle sie bewache.
Sie ist der Quell, und je nachdem die gute
Und schlechte Liebe sie ergreift und sichtet,
Ist sie in euch die Ursach des Verdienstes.
Die Denker, die am tiefsten eingedrungen,
Erkannten wohl die angeborne Freiheit;
Drum ließen sie der Welt die Sittenlehre.
Gesetzt nun auch, daß mit Notwendigkeit
Jedwede Liebe sich in euch entflamme,
So liegt in eurer Macht doch, sie zu halten.
Die Willensfreiheit ist es, die Beatrix
Als »edle Kraft« bezeichnet; denke dessen,
Wenn sie zu dir von diesen Fragen redet. –
Der Mond, der fast bis Mitternacht schon säumte,
Und einem Eimer glich, der ganz erglühet,
Ließ uns die Sterne seltener erscheinen.
Dem Himmelslauf entgegen zog die Bahn er,
Wo dann die Sonne flammet, wenn der Römer
Sie zwischen Korsen sinken sieht und Sardern.
Der holde Schatten aber, dessentwillen
Man Pietola mehr nennt als Mantova,
Entlastet hatt' er sich von meiner Bürde.
Und ich, der ich bestimmt' und klare Auskunft
Auf meine Fragen nun geerntet hatte,
Stand wie wer schlafbefangen Träumen nachhängt.
Doch wurd' ich diesem Halbschlaf schnell entrissen
Durch Leute, welche hinter unsrem Rücken
Uns zugewandt mit raschen Schritten eilten.
Wie einst des Nachts Asopus und Ismenus
Gedräng' an ihrem Ufer sahn und Auflauf,
Wenn Bacchus' Hilfe die Thebaner brauchten,
So schleunigten in diesem Kreis die Schritte,
Wie ich an diesen wahrnahm, all' die Seelen,[219]
Die guter Will' und rechte Liebe spornen.
Bald hatt' uns eingeholt die ganze Schar,
Weil schnellen Lauf's sie alle sich bewegten,
Und weinend riefen laut die beiden ersten:
Auf das Gebirge ging Maria eilig,
Und um Ilerda zu bezwingen, traf
Massilien Cäsar und flog dann nach Spanien. –
Nur rasch, nur rasch, um nicht aus Liebesmangel
Zeit zu verlieren, riefen all' die andren;
Damit am Eifer neu die Gnad' ergrüne. –
O Schatten, die ihr jetzt durch Glut des Eifers
Das Säumen und die Lässigkeit ergänzet,
Womit ihr lau im Gutestun gewesen!
Sobald die Sonne wieder scheint will dieser,
Der lebt (wahrhaftig ist mein Wort) hinaufgehn;
Drum weis't uns, wo der Eingang ist hier nahe. –
Dies waren Worte, die mein Führer sagte,
Und einer jener Geister sprach: So folge
Uns nach, dann findest du die Felsenspalte.
Vom Trieb zur Eile sind wir so durchdrungen,
Daß wir nicht weilen können; drum verzeihe,
Wenn, wo wir recht tun, wir unhöflich scheinen.
Abt war ich von Sankt Zeno in Verona,
Als Kaiser war der gute Barbarossa,
Von welchem Mailand weinend noch berichtet.
Schon hat den einen Fuß im Grabe jemand,
Der wegen jenes Klosters baldigst weinen
Und trauern wird, daß er dort Macht besessen,
Weil seinen Sohn er, der am Leib und ärger
Am Geist verkrüppelt ist und schlecht zur Welt kam,
Einsetzte an den Platz des wahren Hirten. –
Ob er noch mehr sprach oder ob er schwieg,
Das weiß ich nicht, denn schon war er vorüber;
Dies aber hört' ich und dies wollt' ich merken.
Und der in jeder Not mir Hilfe war,
Rief aus: Sieh hierher; horch, wie jene Beiden[220]
Die Lässigkeit mit herben Worten geißeln. –
Sie riefen allen nach: Aussterben mußte
Das ganze Volk, vor dem das Meer sich auftat,
Bevor der Jordan seine Erben sah.
Und die die Mühsal nicht bis an das Ende
Ertrugen mit dem Sohne des Anchises,
Bereiteten sich selbst ruhmlosen Tod. –
Als nun so fern uns jene Schatten waren,
Daß sie der Blick nicht mehr erreichte, stiegen
Gedanken neuen Inhalt's in mir auf.
Draus keimten wieder andre mannigfaltig
Und von dem einen irrt' ich so zum andren
Daß vor Behagen ich die Augen schloß
Und die Gedanken mir zu Träumen wurden.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro