Dreißigster Gesang

[267] Als so des ersten Himmels Nordgestirn,

Das Aufgang nie gekannt und Niedergang,

Noch anders als durch Sünde je umwölkt ward,

Und das, wie denen, die, den Hafen suchend

Das Steuer drehn, der niedre Nordstern tut,

So jedem dort verkündet was ihm obliegt,

Nun stillstand, wandte die wahrhafte Schar,[267]

Die bis dahin vom Greifen es getrennt,

Dem Wagen sich als seinem Ziele zu.

Wie gottgeheißen, rief der eine singend

Dreimal: Komm meine Braut vom Libanon! –

Und alle andren folgten seinem Beispiel.

Beim jüngsten Aufruf werden so die Sel'gen,

Aus seiner Höhle jeder, schnell erstehen,

Mit neuer Stimme Halleluja singend,

Wie auf dem göttlichen Gefährte hundert,

Des ewgen Lebens Diener und Gesandte,

Auf solchen Greises Stimme sich erhoben.

»Gelobt sei der da kommt«, so sagten alle,

Und, Blumen werfend rings und drüberhin:

»O streuet Lilien aus mit vollen Händen!«

Wohl sah ich schon bei dem Beginn des Tages

Des Himmels Osten ganz wie Rosen glühn

Und anderweit in lichter Bläue glänzen,

Auch sah beim Aufgehn ich verhüllt die Sonne,

So daß das Auge durch der Dünste Mild'rung

Sie anzublicken läng're Zeit vermochte;

So ward ich in der Wolke jener Blumen,

Die sich erhoben aus der Engel Händen

Und niederfielen innen so wie außen,

Ein Weib gewahr, die über weißem Schleier

Bekränzt mit Öllaub, unter grünem Mantel

Gekleidet war in heller Flamme Farben.

Und, der so lange schon durch ihre Nähe

Nicht mehr vor Staunen zitternd sich bewältigt

Gefühlt, mein Geist, empfand, obwohl die Augen

Ihm weitre Kunde noch nicht mitgeteilt,

Auf Grund geheimer Kraft, die von ihr ausging,

Der alten Liebe mächtige Gewalt.

Als nun von jener hohen Kraft mein Auge

Getroffen ward, die, eh' das Knabenalter

Ich überschritten, todeswund mich machte,

Wandt' ich zur Linken mich mit dem Vertrauen,[268]

Mit dem das Kind zu seiner Mutter eilt,

Wenn es sich fürchtet, oder schon versehrt ist,

Um zu Virgil zu sagen: Nicht ein Quentchen

Von Blut ist mir geblieben, das nicht bebte;

Der alten Flamme Spuren kenn' ich wieder. –

Allein entzogen hatte uns Virgil

Sein teures Selbst, Virgil, der süße Vater,

Virgil, dem ich zum Heile mich ergeben.

Und alles, was verwirkt die erste Mutter,

Nicht hindert es die taugeklärten Wangen,

Aufs neue sich durch Tränen zu verdüstern.

Dante, nicht weil Virgil von hinnen ging,

Sollst du schon weinen, darum noch nicht weinen;

Ein andres Schwert noch wird dich weinen machen. –

So wie vom Steuer bald und bald vom Schnabel

Ein Admiral erspäht, wie auf den Schiffen

Die Mannschaft tätig ist und sie ermuntert,

So sah ich, als beim Klange meines Namens,

Den ich genötigt bin hier einzutragen,

Ich mich gewandt, am linken Rand des Wagens

Das hohe Weib, die von den Blumenspenden

Der Engel mir verhüllt zuerst erschien,

Auf mich, der diesseit stand, die Augen richten,

Obwohl, umkränzet von Minervas Laube,

Der Schleier, der von ihrem Haupte wallte,

Sie unvollkommen nur erkennen ließ.

Und sie fuhr fort, mit königlichem Stolze

Im Ausdruck, dem vergleichbar, der beim Sprechen

Der Rede wärmsten Teil sich vorbehält:

Sieh uns nur an! Wohl bin ich's, bin Beatrice.

Wie wagtest diesem Berge du zu nahen?

Weißt du nicht, daß der Mensch hier glücklich ist? –

Zum klaren Bach senkt' ich das Auge nieder;

Doch als ich drin mein Bild sah, drückte Scham

Mir so die Stirn, daß ich's zur Matte wandte.

So scheint die Mutter fremd und hart dem Kinde[269]

Wie sie mir schien, und bitter war für mich

Des herben Mitleid's brennender Geschmack.

Kaum schwieg sie, so begann der Engel Chor:

Den Psalm »Auf dich, Herr, traue ich« zu singen;

Doch weiter nicht, als »stellest meine Füße«.

Wie vom Nordost getrieben und verdichtet,

Und festgehalten von lebend'gen Balken,

Der Schnee zu Eis gefriert auf Wälschlands Rücken,

Und schmelzend dann in sich zusammensinkt,

Sobald es weht vom schattenlosen Lande,

Daß er sich auflöst, wie ein Licht am Feuer,

So konnt' ich Tränen nicht, noch Seufzer finden

Bis zum Gesange jener, deren Töne

Stets die Musik der Sphären wiedertönen;

Doch als in ihren süßen Melodie'n sie

Mir Mitleid zeigten, mehr als ob: O Herrin,

Was tust du ihm so weh? – gesagt sie hätten,

Da ward der Frost, der mir das Herz erstarrte,

Zu Hauch und Wasser, so daß mit Beklemmung

Er aus der Brust mir drang durch Mund und Augen.

Sie aber, fest auf der gedachten Seite

Des Wagens stehend, richtet' ihre Rede

An jene frommen Wesen solcherweise:

Ihr wacht ohn' Unterlaß im ew'gen Tage,

So daß euch keinen Schritt, der auf den Wegen

Der Welt getan wird, Nacht und Schlaf entziehn.

Drum fass' ich meine Antwort mehr zum Zwecke,

Daß der mich höre, der dort jenseits weinet,

Damit der Schuld das Maß des Schmerzes gleiche.

Nicht durch die Gunst allein der hohen Räder,

Die, je nachdem die Sterne günstig sind,

Jedweden zu bestimmtem Ziele leiten;

Auch aus der Fülle höchster Gnadenspende,

Die aus so hohem Dunstkreis Regen schöpft,

Daß nicht annähernd unser Aug' hinanreicht,

War dieser so in seinem neuen Leben[270]

Begabt, daß Übung rechter Art

Bewundernswürdigen Erfolg verhieß.

Doch um so wilder wird, um so verderbter,

Schlecht angebaut und schlecht besä't, das Erdreich,

Je mehr von guter Bodenkraft ihm inwohnt.

Mit meinem Antlitz hielt ich eine Zeit ihn.

Indem die jungen Augen ich ihm zeigte,

Führt' ich ihn mit mir in der rechten Richtung;

Doch, als die Art des Lebens ich vertauschte

An meines zweiten Lebensalters Schwelle,

Macht' er sich los von mir und gab sich andren.

Als ich vom Fleisch erhoben war zum Geiste

Und Schönheit mir, wie Kraft gewachsen waren,

Ward minder lieb ich ihm und minder wert.

Zu falschen Wegen wandt' er seine Schritte,

Den Bildern trügerischen Heiles folgend,

Die kein Versprechen halten, das sie gaben,

Auch half es nicht, daß Zeichen ich erwirkte,

Durch die in Träumen ich und andrer Weise

Zurück ihn rief; so war er mir entfremdet.

Er fiel so tief, daß nur das eine Mittel

Zu seinem Heile blieb, vor allen andren:

Die Scharen der Verdammten ihm zu zeigen.

Um seinethalb hab' ich der Toten Pforte

Besucht, und meine Bitten unter Tränen

Dem dargebracht, der ihn hieher geleitet.

Ein hohes, göttliches Verhängnis würde

Gebrochen sein, wenn ohne ein'gen Zoll

Der Reu', die Tränen auspreßt, solche Frucht

Gekostet würd' und Lethe überschritten. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 267-271.
Lizenz:
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