Dreiunddreißigster Gesang

[280] In süßer Psalmodie begannen weinend

Die Frau'n: »Herr in dein Erbe sind die Heiden

Gefallen«, wechselnd ihrer drei und vier.

Beatrix aber horchte dem Gesange

So schmerzlich seufzend, daß am Fuß des Kreuzes

Nur wenig mehr Maria sich verfärbte.

Als ihrer Rede dann die andren Jungfrauen,

Indem sie selber schwiegen, Raum gegeben,[280]

Erhob sie sich zur Antwort, rot wie Feuer:

In kurzem werdet ihr mich nicht mehr sehen;

Dann aber auch, ihr meine lieben Schwestern,

In kurzem werdet ihr mich wiedersehen. –

Voranzugehn befahl sie dann den Sieben

Dem holden Weib, und mir durch Wink gebietend,

Gleich Statius, der noch weilte, ihr zu folgen.

So ging sie, und nicht ihrer Schritte zehnten,

Bedünkt mich, hatte nieder sie gesetzt,

Als ihre Augen auf die meinen trafen.

Mit ruh'gem Ausdruck sprach sie: Geh geschwinder,

Damit, wenn ich die Rede an dich richte,

Du wohl bereitet sei'st, auf mich zu hören. –

Als neben ihr ich war, so wie ich sollte,

Begann sie: Bruder, da du mit mir kommst,

Warum mich zu befragen wagst du nicht? –

Wie denen, die bei zu viel Ehrerbietung

Mit dem, der höher steht, zu reden haben,

Kaum hörbar an die Zähne dringt die Stimme,

Also geschah mir; denn nur halbvernehmlich

Begann ich: Herrin, alles was mir nottut

Kennt ihr und so auch, was dafür mir gut ist. –

Von aller Furcht und Scham, das ist mein Wille,

Sollst du dich nun befrein, so sagte sie,

Daß du nicht redest, wie ein Mann der träumet.

Vernimm, der Wagen, den der Wurm zerbrochen,

War, aber ist nicht. Wer dran Schuld hat, wisse,

Die Rache Gottes scheut nicht Eingebrocktes.

Nicht immerdar bleibt unbeerbt der Adler,

Von dem der Wagen das Gefieder hat,

Das erst zum Untier, dann zur Beut' ihn machte.

Denn sicher seh' ich, und darum bericht' ich's

Schon nahe Sterne, frei sowohl von Hind'rung

Als Widerstande eine Zeit uns bringen,

In der ein Gottgesendeter Fünfhundert

Und Zehn und Fünf die Räuberin wird töten[281]

Sowie den Riesen, welcher mit ihr sündigt.

Vielleicht, daß, dunkel, so wie die der Themis

Und Sphinx, dich meine Rede zweifeln läßt,

Weil sie nach deren Art den Sinn verhüllt;

Doch werden die Geschicke bald Najaden

Dir werden und dies schwere Rätsel lösen,

Und unbeschädigt Vieh und Feldfrucht bleiben.

Du aber merk' und melde diese Worte,

Wie ich sie sagte, denen, die des Lebens,

Das nur zum Tod' ein Laufen ist, noch leben.

Auch sollst, wenn du sie schreibst, du nicht verschweigen,

In welchem Zustand du den Baum gesehn hast,

Der nun zum zweiten Male hier beraubt ward.

Wer immer ihn beraubt, wer ihn zersplittert,

Der kränkt durch tatgewordne Läst'rung Gott,

Der nur zu seinem Dienst ihn heilig schuf.

Fünftausend Jahr' und mehr verlangt' in Sehnsucht

Die erste Seele, weil von ihm sie aß,

Nach dem, der an sich selbst den Biß bestrafte.

Es schläft dein Geist, wenn er nicht wohl erkennt,

Daß aus besondrem Grund der Baum so hoch

Und fremdgestaltet ist in seinem Gipfel.

Und wären nicht die eitelen Gedanken

Für deinen Geist gleich Elsa's Flut gewesen,

Und ihre Lust, wie Pyramus dem Maulbeer,

So würdest du schon aus so vielen Gründen

Sittlich die göttliche Gerechtigkeit

In dem Verbot des Baumes erwiesen finden.

Doch, weil in deinem Geiste ich versteinert,

Und in dem Steine noch verfärbt, dich finde,

So daß dich blendet meiner Rede Licht,

Sollst du, wenn auch als Schrift nicht, doch als Bild,

Sie innen mit dir nehmen, aus dem Grunde,

Warum den Stab mit Palmen Pilger schmücken. –

Und ich: So wie die eingegrabne Form

Des Siegels sich im Wachs entsprechend ausdrückt,[282]

So trägt jetzt eure Prägung mein Gehirn.

Warum indes fliegt eu'r ersehntes Wort

So über meine Sehkraft weit hinaus,

Daß sie's nur mehr verliert, je mehr sie nachstrebt? –

Damit du würd'gen lernst die Schule, welcher

Du anhingst, und wie wenig ihre Lehre

Imstand' ist, meinem Wort zu folgen (sprach sie),

Und seh'st, wie Gottes Wege von den euren

So weit entfernt sind, als von eurer Erde

Der Himmel absteht, der am höchsten eilet. –

Und ich erwiderte: Ich wüßte nicht,

Daß ich mich je von euch entfremdet hätte,

Noch macht mir mein Gewissen solchen Vorwurf. –

Kannst du dich, so entgegnete sie lächelnd,

Nicht dran erinnern, so erwäge nur,

Daß du vom Lethe eben erst getrunken.

Und wie man aus dem Rauch auf's Feuer schließet

So zeigt dies dein Vergessen, daß dein Wille,

Der andres Ziel verfolgte, schuldig war.

Jedoch von nun an sollen meine Worte

Insoweit nackt sein, als sie zu enthüllen

Notwendig ist für deine blöden Augen. –

Und flammender und mit langsamren Schritten

Verweilte schon die Sonn' im Mittagskreise,

Der hin und her mit dem Beschauer wechselt,

Als an dem Ende des farblosen Schattens,

(Wie unter grünem Laub und schwarzen Ästen

Die Alpen ihn an kühlen Bächen tragen)

Die sieben Frau'n nicht anders stille standen,

Als der tut, der, geht er der Schar als Führer

Voraus, auf neues oder dessen Spur trifft.

Euphrat und Tigris schienen mir vor ihnen

Hervorzurinnen aus derselben Quelle,

Und dann, gleich Freunden zögernd, sich zu trennen.

O Licht, o Ruhm des menschlichen Geschlechtes,

Was für ein Wasser strömt von einem Ursprung[283]

Hier aus, um dann sich von sich selbst zu scheiden? –

Auf solche Bitte wurde mir erwidert:

Matelda bitte, daß sie dir es sage. –

Da sprach das holde Weib, wie wer Verschuldung

Ablehnen will: So dies als andre Dinge

Vernahm er schon von mir, und Lethe's Wasser

Hat sicher davon nichts vor ihm verborgen. –

Drauf Beatrice: Wohl mag größre Sorge,

Die oftmals das Gedächtnis raubt, verdunkelt

Das Auge der Erinnerung ihm haben

Sieh aber Eunoè, die dort entspringet;

Zu dieser führ' ihn so wie du gewohnt bist,

Ihm die erlahmte Kraft neu zu beleben. –

So wie ein edles Herz nicht Ausflucht suchet;

Nein, zu dem seinen macht den fremden Willen,

Sobald ein Zeichen ihm ihn offenbaret,

Nicht anders schritt, nachdem sie mich erfasset,

Das holde Weib voran und sprach zu Statius

Im Ton der Herrin: Komm auch du mit ihm. –

Wär' mir, o Leser, weitrer Raum zum Schreiben

Verstattet, sänge ich den süßen Trank

Wohl teilweis, der mich nie gesättigt hätte;

Weil aber voll schon sind die Blätter alle,

Die für dies zweite Lied ich angelegt,

So heißt der Zaum der Kunst, mich innehalten.

Erneuert kehrt' ich von der heil'gen Quelle

In gleicher Art zurück, wie junge Pflanzen

Verjüngert sich durch junge Blätter fühlen,

Rein und bereit zum Aufschwung nach den Sternen.


Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 280-284.
Lizenz:
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Die Göttliche Komödie
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