Dreizehnter Gesang

[196] Zum höchsten Punkt der Treppe waren wir

Gelangt, wo in dem Berg, der die Ersteiger

Von Schuld befreit, ein zweiter Einschnitt ist.

Hier windet um den Hügel sich als Kranz

Ein breiter Weg, der ganz dem ersten ähnlich,

Nur daß sein Umkreis enger ist gebogen.

Nicht Bildwerk ist, nicht Zeichnung dort zu sehen;

Es zeigt das Ufer gleich dem schlichten Boden

Nichts andres, als des Steines düst're Farbe.

Wenn um zu fragen, Leute wir erwarten,

Begann der Meister, fürchte ich, es möchte

Zu lange uns're Wahl sich hier verzögern. –

Dann richtet' er zur Sonne fest das Auge,

Und wandte seines Körpers linke Seite,

Indem als Zentrum ihm die rechte diente.

O süßes Licht, auf welches ich vertrauend

Den neuen Weg betrete, führe du uns,

So sprach er, wie zu geh'n sich hier gebühret.

Du bist es, das die Welt wärmt und erleuchtet;

Es soll dein Strahl, wo kein besondrer Grund

Das Gegenteil befiehlt, uns Führer sein. –

Gemacht schon hatten wir nach ird'scher Rechnung

Wohl eine Miglie Weg's; doch bei dem Eifer

Der uns beseelte, in gar kurzer Frist.

Da hörten wir, doch ohne sie zu sehen,

Wie Geister uns im Flug' entgegenschwebten,[196]

Zum Liebesgastmahl süße Ladung rufend.

Sie haben keinen Wein, – so sagte laut

Die Stimme, die zuerst vorüberflog

Und wiederholt' es hinter uns noch weiter.

Und noch bevor wir sie, ob der Entfernung,

Nicht mehr vernahmen, rief im raschen Fluge

Die zweit': Ich bin Orest – und zog vorüber.

O Vater sagt ich, was für Stimmen sind das? –

Und während ich noch frug, erscholl die dritte,

Die sagte: Liebet, die euch übeltaten. –

Der Meister sagte: Dieser Gürtel züchtigt

Die Schuld des Neides; darum ist die Geißel

Mit Strängen, die die Liebe beut, bewehrt.

In and'rem Sinne muß der Zügel lauten;

Vernehmen wirst du's, wenn ich recht vermute,

Eh' du zum Ausgang, der da sühnt, gelangest.

Doch richte vorwärts, aufmerksam die Augen

Und sitzen siehst du eine Reihe Schatten,

Von denen jeder an die Felswand lehnet. –

Da öffnet' ich mehr als zuvor die Augen,

Und Leute sah ich angetan mit Mänteln,

Nicht unterschieden von des Steines Farbe.

Als etwas weiter wir gegangen waren,

Da hört ich rufen: Bitt' für uns Maria,

Und Petrus, Michael und alle Heil'gen. –

Wohl glaub' ich, daß auf Erden niemand wandelt

So harten Herzens, daß ihn nicht das Mitleid

Bei dem, was ich nun sah, ergriffen hätte;

Denn als so nah zu ihnen ich gelangt war,

Daß ihre Haltung sicher ich erkannte,

Brach bitt'rer Schmerz hervor aus meinen Augen.

Mit grobem Haartuch waren sie bekleidet

Und auf des Nächsten Schulter stützte jeder

Sich, wie das Felsenufer alle stützte.

So sieht die Blinden man, die Mangel leiden,

Wenn sie beim Ablaß Gaben sich erbitten,[197]

Sein Haupt den einen auf den andren lehnen,

Damit noch neben ihrer Worte Inhalt

Der Anblick, der nicht minder dringend bittet,

In fremden Herzen rasch das Mitleid wecke.

Und wie den Blinden nichts die Sonne fruchtet,

So will das Himmelslicht an jenem Orte

Den Schatten nichts von seinem Glanz gewähren;

Denn aller Augenlid durchbort ein Draht

Und schließt es also wie dem wilden Sperber

Zu tun man pflegt, damit er ruhig bleibe.

Mir kam es vor, als ob ich Unrecht tue,

Wenn, ungesehn, die and'ren ich beschaute;

Drum wandt' ich mich zu meinem weisen Rater.

Und da er den noch Stummen schon verstand,

Erwartet' er nicht erst, daß ich ihn früge

Und sagte: Rede kurz denn und verständig. –

Virgil ging neben mir auf jener Seite,

Wo man gefährdet ist hinabzufallen,

Weil Raum für keinen Rand das Ufer läßt.

Zur and'ren Seite saßen still ergeben

Die Schatten, welche durch die grause Nat

So preßten, daß sich ihre Wangen netzten.

Ich wandte mich zu ihnen und begann:

O Seelen, sicher, einst das Licht zu schauen,

Nach dem allein sich eu'r Verlangen richtet,

Soll Gnade bald den letzten Schaum zerstreuen,

Der eu'r Gewissen trübet, so daß helle

Die Rückerinn'rung in ihm niederfließe,

So sagt mir, ob Lateinerin nicht eine

Hier unter euch ist; mir wär' es willkommen,

Und fruchten könnt es ihr, wenn ich's erfahre. –

O Bruder, Bürgerin ist hier jedwede

Der einen wahren Stadt; doch willst du sagen,

Ob ein' als Pilgerin in Wälschland lebte. –

Die Worte glaubt' ich etwas weiterhin,

Als wo ich stand, zur Antwort zu vernehmen,[198]

Weshalb mein Vorgehn ich bemerklich machte.

Da sah ich einen Schatten, dem das Warten

Man ansah, und wenn jemand früg': An was denn?

So sag' ich, Blinden gleich, erhob das Kinn er.

Geist, der um aufzusteigen, Qualen duldet,

Bist du's, begann ich, der mir Antwort gab,

So mach durch Namen oder Ort dich kenntlich. –

Ich war aus Siena, sprach er, und mit allen,

Die hier sind, läutr' ich mich vom schuld'gen Leben,

Daß Gott sich uns gewähr', in Tränen bittend.

Sapía ward ich zwar genannt; doch weise

War ich so wenig, daß der Schaden and'rer

Mehr als mein eigner Vorteil mich erfreute.

Damit du nicht, daß ich dich täusche glaubest,

So höre selbst, wie töricht ich gewesen:

Schon neigte abwärts sich mein Lebensbogen

Als meine Landsgenossen dort bei Colle

Mit ihrer Feinde Heer zusammenstießen.

Da bat ich Gott um das, was er beschlossen.

Geschlagen wurden sie und in die Schritte

Der bitt'ren Flucht gejagt, und meine Freude,

Als ich die Flücht'gen sah, war außer Maßen,

So daß empor die kecke Stirn ich wandte

Und rief: O Gott, nun fürcht' ich dich nicht länger;

Wie wegen wenig Sonnenscheins die Amsel.

Am Ende meines Lebens sucht' ich Frieden

Mit Gott; doch würde meine Schuld durch Buße

Noch sich zu mindern nicht begonnen haben,

Wenn nicht in seinen heiligen Gebeten

Sich aus Erbarmen Peter Pettinagno

Fürbittend meiner oft erinnert hätte.

Doch wer bist du, der du nach uns'rem Zustand

Mit ungebundnem Auge also fragest,

Und bei dem Sprechen, wie ich glaube, atmest? –

Das Auge wird auch mir geraubt hier werden;

Doch kurze Zeit nur, sagt' ich, denn die Sünde,[199]

Die neidisch blickend es verübt, ist klein nur.

Viel größre Furcht indes hält meine Seele

Befangen vor der Qual im vor'gen Kreise

Und drücken fühl' ich schon die Last dort unten. –

Und sie zu mir: Wer führte hier herauf dich,

Wenn du nach unten denkst zurückzukehren? –

Und ich: der mir zur Seite geht und schweiget.

Lebendig bin ich; drum, erwählter Geist,

Verlange nur, wenn dir daran gelegen,

Daß jenseits ich für dich den Fuß noch rege. –

So neu ist was du sagst und unerhört,

Sprach sie, daß es bezeugt, Gott liebe dich;

Drum denke manchmal in Gebeten meiner.

Auch bitt' ich dich bei dem, was du vor allem

Ersehnst, daß, kommst du jemals nach Toscana,

Du meinen Ruf dort herstellst bei den Meinen.

Du findest sie bei dem leichtsinn'gen Volke,

Das noch vergeblicher, wie bei dem Suchen

Der Diana, Hoffnung baut auf Talamone;

Doch schlimmer geht es noch den Admiralen. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 196-200.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon