|
[204] Soviel als bis zum Schluß der dritten Stunde
Seit dem Beginn des Tages von der Sphäre,
Die stets nach Kindesweise spielt, zu sehn ist,
So viel von ihrem Laufe schien der Sonne
Beim Nah'n des Abends übrig noch geblieben;
Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht.
Es traf ihr Strahl uns mitten auf die Stirne
Denn soweit war der Berg von uns umwandelt,
Daß wir genau nun gegen Abend gingen.
Da fühlt' ich meine Augen von dem Glanze
Um vieles mehr noch als zuvor beschweret
Und staunen machte mich das Unbekannte.
Drum hob ich zu der Höhe meiner Brauen
Die beiden Hände, mir als Schirm zu dienen,
Der dem Gesichtskreis das Zuviel verschränke.
Wie, wenn vom Wasser, oder von dem Spiegel
Der Strahl zurückprallt auf die Gegenseite,
Er, wie Erfahrung lehrt und Wissenschaft,
So wie er einfiel, so auch wieder aufsteigt,
Und von dem Fall des Stein's in gleicher Weise,
Wie kommend er getan, im Gehen abweicht,
So glaubt' ich mich von einem Licht getroffen,
Das dort vor mir zurückgeworfen würde,
Weshalb zur Flucht sich schnell mein Auge wandte.
O süßer Vater, was ist das, wogegen
Ich mit Erfolg nicht schirmen kann das Auge,
Und das, so scheint es, auf uns zukommt? – sagt' ich.
Erstaune nicht, wenn dich des Himmels Diener
Für jetzt noch blenden, gab er mir zur Antwort,
Ein Bot' ist's, der zum Höhersteigen ladet.
Bald wird das Anschau'n solcher Dinge dir
Nicht mehr Beschwer, nein, so viel Freude geben,
Als zu empfinden dir Natur gewährte. –[205]
Wie wir zum benedeiten Engel kamen,
Sprach er mit froher Stimme: Tretet hier ein!
Bequemer als die and'ren ist die Treppe. –
Wir stiegen auf, und hörten hinter uns:
Gebenedeit sind die Barmherz'gen singen
Und ferner: Freue dich, du, der du siegest. –
So gingen wir allein, ich und mein Meister,
Nach oben, und ich dachte, daß im Gehen
Ich Vorteil könnte ziehn aus seinem Worte.
Drum wandt' ich mich an ihn mit dieser Frage:
Was meinte wohl der Schatten aus Romogna,
Genossenschaft erwähnend und Verbot? –
Drauf er zu mir: Von seiner größten Sünde
Kennt er den Schaden; wenn er sie nun schilt,
Daß minder man drum weine, ist's kein Wunder.
Weil eu'r Verlangen dahin sich gerichtet,
Wo durch Genossenschaft der Teil gekürzt wird,
Bewegt der Neid den Blasebalg der Seufzer.
Doch, wenn die Liebe zu dem höchsten Kreise
Gewandt nach oben eu'r Verlangen hätte,
So spüret in der Brust ihr jene Furcht nicht.
Je mehr es sind, die droben »unser« sagen,
Um so viel mehr an Gut besitzt ein jeder,
So reichere Liebe brennt in jenem Kloster. –
Entfernter bin ich der Befriedigung,
Sagt' ich, als wenn ich ganz geschwiegen hätte,
Und größ'ren Zweifel berg' ich in der Seele.
Wie kann es sein, daß ein verteiltes Gut
Den mehreren Besitzern mehr von sich
Gewähre, als wenn Wen'ge es besäßen? –
Und er zu mir: Indem du die Gedanken
Nur auf die ird'schen Dinge richtest, glaubst du,
In wahrem Licht nur Finsternis zu sehen.
Das Gut dort oben, welches unaussprechlich
Ist und unendlich, eilt der Lieb' entgegen,
Wie sich der Strahl zum lichten Körper wendet.[206]
Je nach dem Maß der Glut gewährt es sich,
So daß, wie sehr die Liebe sich erweitert,
So sehr die ew'ge Kraft darüber fortwächst.
Je mehr der Herzen droben sich begegnen,
Je mehr ist liebenswert und wird geliebet,
Und, Spiegeln gleich, teilt einer mit dem andern.
Doch tilgt dir meine Rede nicht den Hunger,
So harre Beatrice's, die, wie jedes,
Auch dies Verlangen ganz dir stillen wird.
Bemüh' dich nur, daß, so wie schon die beiden,
Auch die fünf andren Wunden bald getilgt sind,
Die, um je mehr sie schmerzen, schneller heilen. –
Nun hast du mich befriedigt –, wollt' ich sagen,
Da sah ich mich gelangt zum andren Kreise,
Drum hieß in Schaulust mich das Auge schweigen.
Da war's, als ob in plötzlicher Verzückung
Zu einem Bild' ich hingerissen würde
Und viele Leute säh' in einem Tempel.
Ein Weib trat eben ein, aus deren Zügen
Die Mutterliebe sprach, und diese sagte:
Warum, mein Sohn, hast du uns das getan?
Denn, sieh, ich und dein Vater haben beide
Mit Schmerzen dich gesucht. – Und wie sie schwieg,
Verschwand das Bild, das mir zuerst erschienen.
Dann sah ein andres Weib ich, deren Wangen
Das Wasser netzte, das der Schmerz hervorruft,
Den große Kränkung in der Brust entzündet.
Sie sprach: Bist wirklich du der Stadt Gebieter,
Um deren Namen sich die Götter stritten
Und die das Licht jedweden Wissens ausstrahlt,
So räche dich an den verweg'nen Armen,
Pisistratus, die unser Kind umfangen. –
Wohlwollend schien der Herr mir d'rauf und milde
Ihr zu entgegnen mit gelass'nen Zügen:
Verdammen den wir, der uns liebt, was sollen
Mit dem wir machen, der uns Unheil anwünscht? –[207]
Dann sah, entflammt von Zornes Glut ich Männer,
Die laut einander zuschrien: Töte, töte!
Nach einem Jüngling Stein auf Steine werfen.
Ihn aber sah ich bei des Todes Nahen,
Der Kraft beraubt, sich still zur Erde neigen;
Doch seine Augen blieben Himmelspforten
Und mit dem Ausdruck, der Erbarmen aufschließt,
Bat er den Herrn im schweren Kampf, er möge
Die Sünde den Verfolgern nicht behalten.
Als mein verzückter Geist dann zu den Dingen,
Die äuß're Wahrheit haben, wiederkehrte,
Erkannt' ich mein, nicht trügerisches, Irren.
Mein Führer sah, wie ich mich gleich dem Manne
Gebahrte, der sich von dem Schlafe losmacht,
Und sprach: Unsicher ist dein Gang. Was ist dir?
Schon mehr als ein halbe Stunde gehst du
Geschloss'nen Auges und mit irrem Fuße
Gleich dem, den Wein bewältigt, oder Schlummer. –
O süßer Vater, wenn du mir Gehör gibst,
Sagt' ich, bericht' ich dir, was mir erschienen,
Als ich unmächtig meiner Füße war. –
Und er: Bedecktest du mit hundert Larven
Dein Angesicht, so wären mir die kleinsten
Gedanken, die du heg'st, doch nicht verborgen.
Was du gesehn, bereit sollt' es dich machen,
Dein Herz den Friedenswässern aufzuschließen,
Die aus der ew'gen Quelle sich verbreiten.
»Was ist dir?« frug ich nicht aus gleicher Ursach,
Wie wer nur mit dem Auge sieht, das blind wird,
Sobald entseelt der Leib am Boden liegt;
Nur deinen Füßen Kraft zu geben, frug ich.
So stacheln soll die Faulen man, die träg sind
Die Wachezeit zu nutzen, wenn sie da ist. –
Den lichten, abendlichen Strahlen gingen
Entgegen wir, und unsre Augen strebten
Vorwärts zu schauen, soweit als sie vermochten.[208]
Und sieh: ein Rauch kam näher uns und näher,
Der uns so dunkel schien als wie die Nacht.
Auch fehlt' an Raum es, um ihm auszuweichen.
Der nahm die reine Luft uns und die Augen.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.
88 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro