Fünfzehnter Gesang

[204] Soviel als bis zum Schluß der dritten Stunde

Seit dem Beginn des Tages von der Sphäre,

Die stets nach Kindesweise spielt, zu sehn ist,

So viel von ihrem Laufe schien der Sonne

Beim Nah'n des Abends übrig noch geblieben;

Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht.

Es traf ihr Strahl uns mitten auf die Stirne

Denn soweit war der Berg von uns umwandelt,

Daß wir genau nun gegen Abend gingen.

Da fühlt' ich meine Augen von dem Glanze

Um vieles mehr noch als zuvor beschweret

Und staunen machte mich das Unbekannte.

Drum hob ich zu der Höhe meiner Brauen

Die beiden Hände, mir als Schirm zu dienen,

Der dem Gesichtskreis das Zuviel verschränke.

Wie, wenn vom Wasser, oder von dem Spiegel

Der Strahl zurückprallt auf die Gegenseite,

Er, wie Erfahrung lehrt und Wissenschaft,

So wie er einfiel, so auch wieder aufsteigt,

Und von dem Fall des Stein's in gleicher Weise,

Wie kommend er getan, im Gehen abweicht,

So glaubt' ich mich von einem Licht getroffen,

Das dort vor mir zurückgeworfen würde,

Weshalb zur Flucht sich schnell mein Auge wandte.

O süßer Vater, was ist das, wogegen

Ich mit Erfolg nicht schirmen kann das Auge,

Und das, so scheint es, auf uns zukommt? – sagt' ich.

Erstaune nicht, wenn dich des Himmels Diener

Für jetzt noch blenden, gab er mir zur Antwort,

Ein Bot' ist's, der zum Höhersteigen ladet.

Bald wird das Anschau'n solcher Dinge dir

Nicht mehr Beschwer, nein, so viel Freude geben,

Als zu empfinden dir Natur gewährte. –[205]

Wie wir zum benedeiten Engel kamen,

Sprach er mit froher Stimme: Tretet hier ein!

Bequemer als die and'ren ist die Treppe. –

Wir stiegen auf, und hörten hinter uns:

Gebenedeit sind die Barmherz'gen singen

Und ferner: Freue dich, du, der du siegest. –

So gingen wir allein, ich und mein Meister,

Nach oben, und ich dachte, daß im Gehen

Ich Vorteil könnte ziehn aus seinem Worte.

Drum wandt' ich mich an ihn mit dieser Frage:

Was meinte wohl der Schatten aus Romogna,

Genossenschaft erwähnend und Verbot? –

Drauf er zu mir: Von seiner größten Sünde

Kennt er den Schaden; wenn er sie nun schilt,

Daß minder man drum weine, ist's kein Wunder.

Weil eu'r Verlangen dahin sich gerichtet,

Wo durch Genossenschaft der Teil gekürzt wird,

Bewegt der Neid den Blasebalg der Seufzer.

Doch, wenn die Liebe zu dem höchsten Kreise

Gewandt nach oben eu'r Verlangen hätte,

So spüret in der Brust ihr jene Furcht nicht.

Je mehr es sind, die droben »unser« sagen,

Um so viel mehr an Gut besitzt ein jeder,

So reichere Liebe brennt in jenem Kloster. –

Entfernter bin ich der Befriedigung,

Sagt' ich, als wenn ich ganz geschwiegen hätte,

Und größ'ren Zweifel berg' ich in der Seele.

Wie kann es sein, daß ein verteiltes Gut

Den mehreren Besitzern mehr von sich

Gewähre, als wenn Wen'ge es besäßen? –

Und er zu mir: Indem du die Gedanken

Nur auf die ird'schen Dinge richtest, glaubst du,

In wahrem Licht nur Finsternis zu sehen.

Das Gut dort oben, welches unaussprechlich

Ist und unendlich, eilt der Lieb' entgegen,

Wie sich der Strahl zum lichten Körper wendet.[206]

Je nach dem Maß der Glut gewährt es sich,

So daß, wie sehr die Liebe sich erweitert,

So sehr die ew'ge Kraft darüber fortwächst.

Je mehr der Herzen droben sich begegnen,

Je mehr ist liebenswert und wird geliebet,

Und, Spiegeln gleich, teilt einer mit dem andern.

Doch tilgt dir meine Rede nicht den Hunger,

So harre Beatrice's, die, wie jedes,

Auch dies Verlangen ganz dir stillen wird.

Bemüh' dich nur, daß, so wie schon die beiden,

Auch die fünf andren Wunden bald getilgt sind,

Die, um je mehr sie schmerzen, schneller heilen. –

Nun hast du mich befriedigt –, wollt' ich sagen,

Da sah ich mich gelangt zum andren Kreise,

Drum hieß in Schaulust mich das Auge schweigen.

Da war's, als ob in plötzlicher Verzückung

Zu einem Bild' ich hingerissen würde

Und viele Leute säh' in einem Tempel.

Ein Weib trat eben ein, aus deren Zügen

Die Mutterliebe sprach, und diese sagte:

Warum, mein Sohn, hast du uns das getan?

Denn, sieh, ich und dein Vater haben beide

Mit Schmerzen dich gesucht. – Und wie sie schwieg,

Verschwand das Bild, das mir zuerst erschienen.

Dann sah ein andres Weib ich, deren Wangen

Das Wasser netzte, das der Schmerz hervorruft,

Den große Kränkung in der Brust entzündet.

Sie sprach: Bist wirklich du der Stadt Gebieter,

Um deren Namen sich die Götter stritten

Und die das Licht jedweden Wissens ausstrahlt,

So räche dich an den verweg'nen Armen,

Pisistratus, die unser Kind umfangen. –

Wohlwollend schien der Herr mir d'rauf und milde

Ihr zu entgegnen mit gelass'nen Zügen:

Verdammen den wir, der uns liebt, was sollen

Mit dem wir machen, der uns Unheil anwünscht? –[207]

Dann sah, entflammt von Zornes Glut ich Männer,

Die laut einander zuschrien: Töte, töte!

Nach einem Jüngling Stein auf Steine werfen.

Ihn aber sah ich bei des Todes Nahen,

Der Kraft beraubt, sich still zur Erde neigen;

Doch seine Augen blieben Himmelspforten

Und mit dem Ausdruck, der Erbarmen aufschließt,

Bat er den Herrn im schweren Kampf, er möge

Die Sünde den Verfolgern nicht behalten.

Als mein verzückter Geist dann zu den Dingen,

Die äuß're Wahrheit haben, wiederkehrte,

Erkannt' ich mein, nicht trügerisches, Irren.

Mein Führer sah, wie ich mich gleich dem Manne

Gebahrte, der sich von dem Schlafe losmacht,

Und sprach: Unsicher ist dein Gang. Was ist dir?

Schon mehr als ein halbe Stunde gehst du

Geschloss'nen Auges und mit irrem Fuße

Gleich dem, den Wein bewältigt, oder Schlummer. –

O süßer Vater, wenn du mir Gehör gibst,

Sagt' ich, bericht' ich dir, was mir erschienen,

Als ich unmächtig meiner Füße war. –

Und er: Bedecktest du mit hundert Larven

Dein Angesicht, so wären mir die kleinsten

Gedanken, die du heg'st, doch nicht verborgen.

Was du gesehn, bereit sollt' es dich machen,

Dein Herz den Friedenswässern aufzuschließen,

Die aus der ew'gen Quelle sich verbreiten.

»Was ist dir?« frug ich nicht aus gleicher Ursach,

Wie wer nur mit dem Auge sieht, das blind wird,

Sobald entseelt der Leib am Boden liegt;

Nur deinen Füßen Kraft zu geben, frug ich.

So stacheln soll die Faulen man, die träg sind

Die Wachezeit zu nutzen, wenn sie da ist. –

Den lichten, abendlichen Strahlen gingen

Entgegen wir, und unsre Augen strebten

Vorwärts zu schauen, soweit als sie vermochten.[208]

Und sieh: ein Rauch kam näher uns und näher,

Der uns so dunkel schien als wie die Nacht.

Auch fehlt' an Raum es, um ihm auszuweichen.

Der nahm die reine Luft uns und die Augen.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 204-209.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon