|
[221] Zur Stunde, wo des Tages Glut, bezwungen
Vom Frost der Erd' und manchmal des Saturn,
Des Mondes Kälte nicht mehr mindern kann,
Und wo ihr »großes Glück« die Geomanten
Im Osten vor der Dämmerung auf Wegen
Aufsteigen sehn, wo bald das Dunkel schwindet,
Erschien im Traume mir ein stammelnd Weib
Mit schielem Blick und mißgestalten Beinen,
Von bleicher Farbe und gelähmten Händen.
Ich sah sie an, und wie die Sonne Glieder,
Die nächt'ger Frost erstarrt hat, wieder kräftigt,
So ward von meinen Blicken ihre Zunge
Gelöst; dann richtete in kurzer Weile
Sie sich empor, und wie's die Liebe wünschet,
So färbten sie ihr das erbleichte Antlitz.
Als so die Redekraft sie neu gewonnen,
Begann mit solcher Süße sie zu singen,
Daß ungern abgewandt mein Ohr ich hätte.[221]
Sie sang: Ich bin die liebliche Sirene,
Die Schiffer auf dem hohen Meer betöret,
So wonnig ist es, meinem Sang zu lauschen.
Von seiner Irrfahrt wandte den Ulysses
Mein Singen ab; wer sich mit mir befreundet
Verläßt mich kaum, weil ganz ich ihn beglücke. –
Geschlossen hatte sie noch nicht den Mund,
Als neben mir ein heil'ges Weib ich sah,
Die jene zu beschämen sich beeilte.
Virgil, so sprach sie zürnend, o Virgil,
Wer ist dies Weib? – Doch seine Augen ruhten
Im Gehen unverwandt auf jener Reinen.
Da griff sie nach der andren und zerriß ihr
Die Kleider vorn, den nackten Leib mir zeigend;
Dann weckte mich der Stank, der von ihm ausging.
Die Augen wandt' ich und: Schon mehr als dreimal
Rief ich, steh auf und komm! (so sprach Virgil)
Erspähen wir den Spalt, durch den du eintrittst. –
Ich richtete mich auf; vom hohen Tage
Erfüllt war jeder Kreis des heil'gen Berges.
Dann gingen wir, die junge Sonn' im Rücken.
Als ich ihm folgte, trug ich meine Stirne
Wie einer, dem sie schwer ist von Gedanken,
So daß er gleicht dem halben Brückenbogen.
Da hört' ich sanft und mit so güt'gem Tone,
Als hier im Reich der Sterblichkeit man niemals
Vernimmt, uns rufen: Kommt, hier ist der Eingang. –
Es schlug, der so gesprochen, die zwei Flügel,
Gleich Schwanenflügeln auf, und wies uns zwischen
Den beiden Wänden des Gestein's nach oben.
Dann regt' er das Gefieder, uns zu fächeln,
Indem er selig, die da trauern, pries,
Weil ihre Seele reich an Troste sein wird.
Was ist dir, daß du nur zu Boden blickest? –
Begann mein Führer, als wir beide wenig
Vom Engel erst emporgestiegen waren.[222]
Und ich: So fesselt mich ein neu Gesicht,
Daß sein zu denken ich nicht lassen kann;
Deswegen geh ich so in mich versunken. –
Du sahst, entgegnet' er, die alte Zaub'rin,
Um die allein noch über uns man weinet.
Du sahst auch, wie der Mensch von ihr sich losmacht.
Genüg' es dir, und tritt mit rüst'gem Fuß auf,
Blick' auf die Lockung, die der ew'ge König
Dir, kreisend in den großen Rädern, zeigt. –
So wie der Falk, der auf die Füße schaute,
Sich auf den Ruf des Falkners streckt und wendet,
Weil dorthin die Begier nach Fraß ihn zieht,
Tat ich, und also ging, solang' der Felsen
Zum Pfade sich für den, der aufsteigt, spaltet,
Bis wo der neue Ring ist, ich empor.
Als offenbar mir ward der fünfte Kreis
Sah Leute ich in ihm am Boden liegend,
Das Angesicht nach unten, welche weinten.
Es hat am Staub gehaftet meine Seele –
Hört' ich sie sagen, mit so tiefen Seufzern,
Daß man die Worte kaum vernehmen konnte.
O ihr Erkornen Gottes, deren Leiden
Sowohl Gerechtigkeit als Hoffnung mildern,
Weis't uns den Weg, den Berg emporzusteigen. –
Kommt von der Pflicht zu liegen frei ihr her
Und wollet ihr den Weg bildmöglichst finden,
So kehrt nach außen stets die rechte Seite. –
So frug Virgil und so ward wenig vor uns
Zur Antwort ihm erteilt und ich erriet
Was noch verhüllt mir war, an seiner Rede.
Die Augen wandt' ich da zu meinem Herrn;
Er aber willigte mit heit'rem Winke
In das, was sichtbar mein Verlangen bat.
Als, was ich wollte, mir zu tun erlaubt war,
Stellt' ich mich über jenem Schatten auf,
Den seine Worte kenntlich mir gemacht,[223]
Und sagte: Geist, der weinend jene Buße
Beschleunigt, die allein zu Gott zurückführt,
Verschieb' ein wenig deine höchste Sorge!
Sag' an, wer warst du, und warum die Rücken
Emporgewandt ihr habt, soll etwas dort,
Woher ich lebend kam, ich dir erwirken. –
Und er: Weshalb der Himmel unsre Rücken
Sich zugekehrt, künd' ich dir; jedoch zuvor
Vernimm, daß ich Nachfolger Petri war.
Ein schönes Flußtal senkt sich zwischen Sestri
Und Chiavari zum Meer, mit dessen Namen
Des Ranges Höhe mein Geschlecht bezeichnet.
Kaum mehr, als einen Monat lang erfuhr ich,
Dem, der ihn reinhält, sei der große Mantel
So schwer, daß leicht die andren Lasten scheinen.
Zu Gott bekehrt' ich leider mich gar spät;
Doch als ich Hirte war von Rom geworden,
Erkannt' ich, wie so lügenhaft das Leben.
Ich sah, wie dort das Herz nicht Ruhe finde;
Und als ich jenes Lebens höchste Stufe
Erreicht, entbrannt' in Liebe ich für dieses.
Elend war meine Seele bis dahin,
Von Gott geschieden und dem Geiz verfallen;
Hier werd' ich drum, so wie du siehst, gezüchtigt.
Des Geizes Wirkung wird hier an der Buße
Der Seelen offenbar, die sich bekehrten;
Und keine Straf' auf diesem Berg' ist bittrer.
Wie unser Auge von den ird'schen Dingen
Befangen, sich nicht himmelwärts erhoben,
So senkt Gerechtigkeit es hier zur Erde.
Und wie der Geiz die Liebe zu dem Bess'ren
In uns erstickt, am Gutestun uns hindernd,
So hält Gerechtigkeit uns hier gebunden,
An Händen und an Füßen eng gefesselt.
Wir bleiben regungslos hier ausgestreckt
So lang' es dem gerechten Herrn gefällt. –[224]
In's Knie gesunken wollt' ich eben reden;
Doch als ich anfing und er am Gehör nur
Die ehrerbietige Gebärde wahrnahm,
Frug er: Aus welchem Grunde neig'st du dich? –
Und ich zu ihm: Um eurer Würde willen
Hieß, so zu tun mich Stehnden mein Gewissen. –
Erhebe Bruder dich und stehe aufrecht;
Laß dich nicht irren, sagt' er, nur ein Mitknecht
Desselben Herrn bin ich mit dir und allen.
Vernahmst du je das Wort des heil'gen Buches,
Daß nach dem Tode sie nicht freien werden,
So kannst du sehn, warum ich also rede.
Nun aber geh, nicht länger sollst du bleiben;
Denn dein Verweilen hindert meine Tränen,
Mit denen ich, was du gesagt, beschleun'ge.
Die Nichte, die ich dort verließ, Alagia,
Ist gut an sich, wenn durch sein schlimmes Beispiel
Nicht mein Geschlecht zum Bösen sie verleitet,
Und sie allein ist jenseits mir geblieben. –
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.
114 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro