Sechzehnter Gesang

[209] Der Hölle Dunkel, oder das der Nacht

Die kein Planet erhellt und deren Himmel

Von dichtestem Gewölke ganz verhüllt ist,

Sie webten meinem Auge dünn're Schleier,

Als wie der Nebel, der uns dort bedeckte,

Und schienen dem Gefühle minder scharf;

Denn offen konnt' ich nicht das Auge halten.

Weshalb mein treuer kundiger Begleiter

Mir nahetretend mir die Schulter darbot,

Und wie der Blinde seinem Führer nachgeht,

Daß er fehlgehend nicht auf Dinge stoße,

Die ihm beschwerlich sind, vielleicht gar tötlich,

So ging ich durch die herbe, schmutz'ge Luft,

Dem Führer lauschend, der beständig sagte:

Hab' acht nur, daß du nicht von mir getrennt wirst. –

Ich hörte Stimmen, und mir schien, daß jede

Zum Lamme Gottes, das die Sünden trägt,

Um Frieden bete und Barmherzigkeit.

»O du Lamm Gottes!« So begann ein jeder.

Gleich war das Wort und gleich die Weise aller,

Vollkomm'ne Eintracht schien sie zu verbinden.

Sind Schatten, Meister, was ich höre? – frug ich.

Und er zu mir: Es ist, wie du vermutest;

Des Zornes Knoten streben sie zu lösen. –

Wer bist denn du, der unsren Rauch durchschneidet

Und von uns redend dich nicht anders ausdrückst,

Als teiltest du die Zeit noch nach Kalenden? –[209]

Also ließ eine Stimme sich vernehmen,

Weshalb mein Meister sprach: Antworte du

Und frag' auch, ob nach oben dies der Weg ist. –

Und ich: O Kreatur, die du dich reinigst,

Um schön zu deinem Schöpfer heimzukehren,

Gehst du mit mir, so wirst du Wunder hören. –

Begleiten will ich dich so weit ich darf,

Sprach er, und wenn der Rauch das Sehn nicht zuläßt,

So wird das Ohr uns doch beisammen halten. –

Drauf hub ich an: Mit eben dem Gewande,

Das durch den Tod zerstört wird, steig' ich auf

Und hierher kam ich von der Hölle Qualen.

Hat mich denn Gott so sehr in seine Gnade

Geschlossen, daß er seinen Hof mich sehn läßt

Ganz gegen den Gebrauch der neuern Zeiten,

So birg mir nicht, wer lebend du gewesen

Und sag' auch, ob ich recht zum Aufgang gehe;

Dann sollen deine Wort' uns Führer werden. –

Lombarde war ich; Marco war mein Name,

Gekannt hab' ich die Welt, geehrt die Tugend,

Nach der jetzt niemand mehr den Bogen spannt.

Du gehst den rechten Weg, um aufzusteigen. –

Nach dieser Antwort sagt' er noch: Ich bitte,

Daß, wenn du oben bist, du für mich bittest. –

Und ich: Bei meinem Wort gelob' ich dir,

Zu tun, was du begehrst; doch ich vergehe

Vor einem Zweifel, bis er mir gelöst wird.

Erst war einfach und nun ward er doppelt

Durch deine Rede, welche mir bestätigt

Das sonst Gehört', an das ich jene knüpfe.

Wohl ist, so wie du sagst, von jeder Tugend

Die Welt verlassen, und von arger Bosheit

Ganz überdeckt und von noch weit'rer trächtig,

Doch bitt ich dich, die Ursach' mir zu künden,

Daß ich sie sehn und and'ren weisen könne;

Im Himmel sucht sie der, hienieden jener. –[210]

Erst seufzt' er tief, und seinen Seufzer streckte

Der Schmerz zum »Wehe!« Dann begann er: Bruder,

Die Welt ist blind, und wohl kommst du von ihr.

Ihr Lebenden, ihr schiebt die Schuld von allen

Nur auf den Himmel droben, als ob seiner

Bewegung jegliches gehorchen müßte.

Vernichtet wäre, wenn sich's so verhielte,

In euch die Willensfreiheit, und nicht Recht,

Daß Gutem Lohn und Bösem Strafe nachfolgt.

Der Regung Anbeginn kommt euch vom Himmel;

Nicht jeder Regung sag' ich, sagt' ich's aber,

So ward euch Licht für Gutes und für Böses

Und freier Wille, der, wenn auch ihm Mühe

Die ersten Kämpfe mit dem Himmel kosten,

Wird er gekräftigt, alles überwindet.

Denn größ're Kraft und bessere Natur

Regiert als Freie euch, von dieser habt ihr

Die Seele, der der Himmel nicht gebietet.

Drum, wenn die Welt vom rechten Weg itzt abirrt,

So liegt der Grund in euch, bei euch nur sucht ihn;

Davon will ich dir wahre Kundschaft geben.

Aus dessen Hand, der liebend sie betrachtet

Eh sie noch ist, geht, einem Kinde gleich,

Das mit dem Weinen spielt, wie mit dem Lachen,

Hervor die Seele, die in Einfalt nichts weiß,

Als daß, entsprossen einem frohen Schöpfer,

Sie gern zu dem was sie ergötzt sich wendet.

Erst findet sie Geschmack an kleinem Gute,

Das sie nur täuscht; doch eilt sie es zu haschen,

Wenn ihre Lust nicht Zaum noch Führer wenden.

Drum war der Zügel des Gesetzes nötig;

Drum mußt' ein König sein, daß er den Turm

Der wahren Stadt doch mindestens erkenne.

Gesetze gibt's, doch wer ist's der sie handhabt?

Nicht einer; weil der Hirte, der vorangeht,

Wohl wiederkäut, doch nicht die Klauen spaltet.[211]

Sieht nun das Volk den Führer nach dem Gute

Nur trachten, das es selber lüstern macht,

So nährt sich's d'ran und sehnt sich nicht nach and'rem.

Erkennen kannst du, daß die schlechte Leitung

Die Ursach ist, warum die Welt so schlecht ward,

Und nicht in euch entartete Natur.

Das Rom, das einst die Welt zum Guten lenkte,

Zwei Sonnen hatte es, die beide Wege,

Den für die Welt und den zu Gott hin, zeigten.

Nun hat die eine ausgelöscht die andre,

Verbunden ist das Schwert dem Hirtenstabe;

Und weil, vereint, nicht eins das andre fürchtet,

Bringt ihr Zusammengehn notwendig Schaden.

Glaubst du mir nicht, so sieh' nur auf die Ähren,

Denn jedes Kraut kennt man an seinem Samen.

Im Lande, welches Etsch und Po benetzen,

War Tapferkeit und Rittersinn zu Hause,

Eh Friedrich seinen Zwist dort ausgefochten.

Jetzt könnte unbesorgt das Land durchreisen,

Wen etwa Scham bewöge, die Begegnung

Und das Gespräch der Guten zu vermeiden.

Noch leben dort drei Greise, als ein Vorwurf

Der alten an die neue Zeit; sie hoffen,

Daß Gott sie bald zu bess'rem Leben rufe:

Der gute Gerhard, Conrad da Palazzo

Und Guido da Castel: ich nenn' ihn lieber

Nach Frankenart, den einfachen Lombarden.

Nun magst du sagen, daß die Kirche Rom's

In sich vereinend die zwei Regimente,

Zur Erde fällt, sich und die Last beschmutzend. –

Mein Marco, sagt' ich drauf, du folgerst richtig,

Und nun erkenn' ich, warum von dem Erbe

Die Kinder Levi ausgeschlossen wurden;

Doch welcher Gerhard ist's, von dem du sagest,

Daß er, als Prob' erloschener Geschlechter,

Ein Vorwurf unsrer Zeit blieb, die verwildert? –[212]

Entweder täuschet, oder prüft dein Wort mich,

Antwortet' er, wenn du, toskanisch redend,

Vom guten Gerhard nichts zu wissen scheinest.

Ich kenn' ihn unter keinem andren Namen,

Nähm' ich ihn nicht von seiner Tochter Gaja.

Gott sei mit euch; nun folg ich euch nicht weiter.

Sieh' wie die Helle schimmernd durch den Rauch

Schon leuchtet; Zeit ist's, daß ich euch verlasse,

Eh mich der Engel sieht, der dort verweilet. –

So kehrt' er um und wollte nichts mehr hören.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 209-213.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Aristoteles

Nikomachische Ethik

Nikomachische Ethik

Glückseligkeit, Tugend und Gerechtigkeit sind die Gegenstände seines ethischen Hauptwerkes, das Aristoteles kurz vor seinem Tode abschließt.

228 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon