Vierter Gesang

[160] Wenn unsre Seel' in Freuden oder Schmerzen,

Die eine unsrer Kräft' in Anspruch nehmen,

Ausschließlich dieser einen Kraft sich zukehrt,

So scheint sie taub für jeden andren Eindruck.

Das widerlegt den Irrtum, welcher wähnet,

Daß Seel' auf Seele sich in uns entzünde.

Deshalb vergeht, und man bemerkt es nicht,

Die Zeit, gewahrt man, oder hört man Dinge,

Die mächtig unsre Seele an sich ziehen;

Denn eine ist die Fähigkeit, die aufmerkt,

Und die der ganzen Seele ist die andre;

Die erste frei, gebunden aber diese.

Hiervon hatt' ich lebendige Erfahrung,

Als voll Verwundrung jenem Geist ich lauschte;

Denn, ohne daß ich's wahrgenommen, war

Die Sonne fünfzig Grad emporgestiegen.

Einstimmig riefen da die Seelen alle:

Hier ist der Ort; hier ist was ihr begehret. –

Oft ist die Öffnung größer, die der Landmann

Mit einer Gabel voller Dornen zuschließt,

Wenn seine Trauben sich im Herbste bräunen,

Als jener Kluft, durch welche meinem Führer

Nachfolgend, ich nun einsam aufstieg, Eingang,

Indes die Seelenschar sich von uns trennte.

Zum Kulm Bismantova's steigt man hinauf

Geht nach San Leo, steigt nach Noli nieder

Auf eignen Füßen; doch hier gilt's zu fliegen

Mit heißer Sehnsucht kräftigem Gefieder,[160]

Dem sicheren Geleit des Führers folgend,

Der, Hoffnung reichend, mir den Pfad erhellte.

Wir kletterten in jenes Felsens Spalte,

Durch das Gestein gehemmt von jeder Seite,

Auch forderte der Boden Händ und Füße.

Als zu des hohen Ufers letztem Rande

Gelangt wir waren, zu der offnen Tenne,

Begann ich: Meister, welche Richtung wählst du? –

Bergab gewandt sei deiner Schritte keiner,

Sagt' er darauf; mir folgend, strebe aufwärts

Bis ein des Weges Kund'ger uns begegnet. –

Der Berg stieg höher als das Auge reichte

Und steiler war sein Abhang, als die Linie,

Die von dem Zentrum führt zum Halbquadranten.

Ermattet war ich, als ich so begann:

Ach, süßer Vater, wende dich und siehe,

Wie ich zurück, wenn du nicht weilest, bleibe. –

Er sagte: Nur bis dorthin schleppe dich –

Und wies auf einen Vorsprung wenig höher,

Der rings den Berg an dieser Stell' umgürtet.

Gespornt von seinem Wort, rafft' ich mich auf,

Bis ich, ihm nach, auf allen Vieren kletternd,

Des Berges Ring mit meinem Fuß betreten.

Wir setzten, hingewandt woher wir kamen,

Uns beide, unser Aug' gekehrt gen Morgen,

Wohin zu blicken, Heil zu bringen pflegt.

Erst schaut' ich abwärts zu dem niedren Ufer,

Dann blickt' ich auf zur Sonn', und wie erstaunt ich,

Als ihre Strahlen uns von links her trafen.

Wohl ward gewahr der Dichter, wie ich ganz

Befremdet nach des Lichtes Wagen starrte,

Der zwischen uns und Norden sich bewegte.

Drum sagt' er mir: Wenn Castor sowie Pollux

Jetzt im Geleite jenes Spiegels wären,

Der auf- und abwärts seine Strahlen spendet,

So sähst den Tierkreis, von der Sonn' entflammet,[161]

Noch näher an den Bärinnen du kreisen,

Falls den gewohnten Weg er nicht verließe.

Willst du imstande sein, dies zu erkennen,

So denk', in dich gekehrt, dir auf der Erde

Sich gegenüber diesen Berg und Zion.

Drum haben sie verschiedne Hemisphären,

Doch einen Horizont, und du begreifst nun,

Wenn aufmerksam dein Geistesauge hinblickt,

Warum der Weg, den Phaëton verfehlte,

Liegt er dort drüben auf der einen Seite,

Hier auf der andren muß vorüberführen. –

Gewiß, mein Meister, sprach ich, nimmer sah ich

Mit solcher Klarheit, als ich nun erkenne,

Wo meine Faßkraft unzureichend schien.

Der Mittelkreis der himmlischen Bewegung,

Der zwischen Sonne stets und Winter weilt,

Und den in einer Kunst man nennt Äquator,

Muß, um wieviel gen Mittag die Hebräer

Ihn sahen, aus dem Grunde, den du nanntest,

Von hier gen Mitternacht gelegen sein.

Doch, wenn es dir beliebt, vernähm' ich gerne,

Wie weit sich unser Weg erstreckt; die Höhe

Steigt weiter auf, als meine Blicke reichen. –

Drauf sagt' er: Dieser Berg ist so beschaffen,

Daß schwierig er beim untren Anfang däucht,

Und leichter wird, je höher man emporsteigt.

Wird dir der Berg dann einst so eben scheinen,

Daß schwerer nicht dir aufzusteigen vorkommt,

Als günst'gen Windes mit dem Strom zu fahren,

So bist gelangt du zu des Pfades Ende

Und magst von allen Mühn der Ruhe pflegen.

Mehr sag' ich nicht; doch dies weiß ich als Wahrheit. –

Und als sein Wort er kaum beendet hatte,

Erscholl uns nah': Wer weiß, ob du zuvor,

Dich auszuruhen nicht Bedürfnis fühlest? –

Bei diesem Worte wandten wir uns beide[162]

Und sahn ein Felsenstück zu unsrer Linken,

Das weder er noch ich zuvor gewahrte.

Dort wandten wir uns hin und fanden Leute,

Die in dem Schatten so bequem sich's machten,

Wie wer vor Lässigkeit der Ruhe pfleget.

Und einer, welcher mir besonders müde

Erschien, umarmte sitzend seine Knie

In deren Mitt' er hängen ließ sein Haupt.

Mein teurer Herr, begann ich, o betrachte

Doch diesen, der sich lässiger beweist,

Als wenn die Faulheit seine Schwester wäre. –

Da wandt' er sich zu uns und uns bemerkend

Erhob die Augen er entlang dem Schenkel

Und sprach: Geh' nur hinauf, wenn du so stark bist. –

Da sah ich, wer er sei, und die Beklemmung,

Die etwas mir den Atem noch beeilte,

Verhinderte mich nicht zu ihm zu gehen.

Nur wenig hob er, als ich ihn erreichet,

Das Haupt und sagte: Hast du wohl gesehn,

Daß hier die Sonne links den Wagen lenket? –

Die läss'ge Weise und die kurzen Worte

Bewegten etwas meinen Mund zum Lächeln:

Belacqua, sagt' ich dann, so ist die Sorge

Um dich mir nun gehoben; aber sage,

Was du hier weilst? Erwartest du Gefährten?

Hat dich die alte Unart neu befallen? –

Ach Bruder, sagt' er drauf, was hilft das Steigen?

Mich ließe ja zur Büßung doch nicht gehen

Der Gottesvogel, der dort an der Tür sitzt.

So lange muß zuvor mir außer ihr

Der Himmel kreisen, als er tat im Leben,

Weil gute Seufzer bis zum End' ich aufhob,

Wenn früher Hilfe nicht Gebete bringen

Aus einem Herzen, das in Gnade steht;

Nutzlos sind andre, nicht erhört im Himmel. –

Schon aber stieg vor mir der Dichter weiter[163]

Und sagte: Komme nun, denn schon berühret

Den Mittagskreis die Sonne und vom Strand' aus

Bedeckt die Nacht mit ihrem Fuß Marokko.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 160-164.
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