Zehnter Gesang

[184] Als innerhalb des Tors wir uns befanden,

Das selten nur gebraucht wird, weil den Irrweg

Die falsche Liebe recht erscheinen läßt,

Hört' ich es tönend hinter mir verschließen;

Und, hätt' ich jetzt nach ihm mich umgewendet,

Wie hätt' Entschuldigung mein Fehl gefunden?

Wir stiegen auf in einer Felsenspalte,

Die sich bald rechts, bald wieder links bewegte,

Wie wohl die Welle wechselnd flieht und nahet.

Hier gilt es, einges Geschick zu zeigen,

Begann Virgil, um sich bald der, bald jener

Gebirgswand, die zurückweicht, anzuschließen. –

So taten unsre Schritte, und wir machten

So langsam sie, daß eh'r des Mondes Neige

Sein Bett' erreichte, sich darein zu legen,

Als wir hervor aus jener Schlucht gelangten.

Doch, als wir oben waren, frei und offen

Dort, wo der Berg nach innen sich zurückzieht,

Ermüdet ich, und beide wir des Weges

Unkundig, setzten wir uns auf der Fläche,

Die öder schien, als Straßen durch die Wüste.

Drei Manneslängen mäße wohl die Breite

Von ihrem Anfang, wo sie an die Leere[184]

Angrenzt, bis wo das Ufer weiter aufsteigt.

Und rechts und links, soweit als seine Schwingen

Mein Auge trugen, schien mir dies Gesimse

In gleicher Weise überall beschaffen.

Noch waren vorwärts wir dort nicht geschritten,

Als ich bemerkte, wie ringsum das Ufer,

Das aufzusteigen jedermann verwehret,

Von weißem Marmor war, und mit Gebilden

So ausgeschmückt, daß nicht nur Polyklet,

Nein die Natur, nichts Gleiches schaffen könnte.

Dort war der Engel, der mit dem Beschlusse

Des während vieler Jahr' erweinten Friedens,

Der den so lang gesperrten Himmel auftat,

Zur Erde niederstieg, vor unsren Augen

So wahr gebildet, mit so holdem Ausdruck,

Daß er nicht einem Bildwerk glich, das schweiget.

Man schwüre, daß er spreche: Sei gegrüßet! –

Denn dargestellt war die auch, die den Schlüssel,

Die höchste Liebe zu eröffnen, drehte,

Und ausgedrückt las man in ihren Zügen

Die Rede: Sieh', ich bin des Herren Magd, –

So wie in Wachse man ein Siegel abdrückt.

Nicht eine Stelle fass' allein in's Auge, –

Begann der Meister, der mich auf der Seite,

Auf der das Herz die Menschen haben, hatte.

Da wandt' ich meinen Blick, und in der Richtung

Wo der mir war, der meine Schritte lenkte,

Sah jenseits von Marien ich am Felsen

Ein andres Bildwerk kunstvoll eingegraben

Drum trat, Virgil vorüber, ich ihm näher

Daß meinem Aug' es offenbarer würde.

Und eingemeißelt war dem Stein der Wagen

Bespannt mit Stieren, drauf die heil'ge Lade,

Die Scheu erweckt vor unberufnem Dienste.

Voraus, geteilt in sieben Chöre, gingen

Viel Leute, und von meinem Sinnen sagte[185]

Der eine, ja, sie singen, nein der andre.

In gleicher Weise stritten ob des Dampfes

Des Räucherwerks, der dort gebildet war,

Sich Aug' und Nase über ja und nein.

Dem heiligen Gefäße ging in Demut

Voraus, geschürzt und tanzend, der Psalmist,

Der hierin mehr als König war und minder.

Und gegenüber sah man aus des großen

Palastes Fenster staunend Michal blicken,

Gleich einem Weib, das sich erboßt und zürnet.

Und weiter ging vom Ort ich, wo ich weilte,

Um nah zu seh'n das andere Gebilde,

Das hinter Michal schimmernd ich bemerkte.

Dort sah' ich dargestellt den hohen Ruhm

Des röm'schen Kronenträgers, dessen Größe

Gregor zu seinem Siege Anlaß bot.

Trajan der Kaiser ist's, von dem ich rede,

Und eine Witwe fiel ihm in den Zügel

Mit Tränen angetan und bittrem Schmerze.

Man sah, wie sich die Ritter um ihn drängten

Und glaubte, daß vom Winde über ihm

Auf goldnem Grund die Adler sich bewegten.

Es schien die Ärmste unter all' den Leuten

Zu sagen: Herr, gewähre du mir Rache

Für meines Sohnes Mord, der mich betrübet. –

Und er erwidert' ihr: So warte denn

Bis ich zurückekehre; – aber sie,

Gleich einem, den des Schmerzes Macht nicht ruhn läßt:

Doch, kehrst du nicht zurück? – und er: Wer nach mir

Regiert, wird dann dich rächen; – aber jene:

Und tät er's auch; so hast du's doch versäumet. –

Drauf er: So tröste dich; denn ich erkenne

Daß meine Pflicht ich tun muß, eh' ich ziehe.

Gerechtigkeit erheischt's und Mitleid hält mich. –

Der nie gesehn, was neu für ihn gewesen

Gab dieser Wechselrede Sichtbarkeit,[186]

Und weil das hier nicht vorkommt, ist's uns neu.

Und noch ergötzt' ich mich, an diesen Bildern,

Die lieb dem Blick ob ihres Künstlers sind,

So vieler Demut Beispiel zu beschauen,

Da flüsterte der Meister: Sieh' hier diesseits

Viel Leute kommen; doch sie schritten langsam.

Wohl weisen die uns zu den hohen Stufen. –

Es wandten die in Schaun versunknen Augen,

Um Neues zu erspähn, wie sie begehren,

Nicht zögernd sich auf's Wort des guten Meisters.

Vernimmst du, Leser, nun, in welcher Weise

Gott will, daß man die Schuld an ihn bezahle,

So lasse drum nicht ab von gutem Vorsatz.

Nicht auf die Form der Martern sollst du merken;

Denk an die Folg', und daß im schlimmsten Falle

Sie mit dem großen Richterspruche enden.

Nicht menschliche Gestalten, so begann ich,

O Meister, dünken die mich, die dort kommen;

Doch weiß ich, was sie sind nicht zu enträtseln. –

Und er zu mir: Die schwere Art der Buße,

Die ihnen auferlegt, drückt sie zu Boden,

So daß mein Aug' anfänglich mit sich kämpfte.

Doch wenn du, fest hinblickend, mit den Augen

Was unter jenen Steinen kommt entzifferst,

So kannst du sehn, wie jeder seine Brust schlägt. –

O stolze, doch beklagenswerte Christen,

Die, krank am Blicke eures geist'gen Auges,

Vertraun ihr setzt in die verkehrten Schritte,

Erkennt ihr nicht, daß wir nichts sind als Würmer,

Bestimmt den Engelsschmetterling zu zeugen,

Der wehrlos dem Gericht entgegenfliegt?

Was überhebt sich so eu'r stolzer Mut,

Da ihr erst werdende Insekten seid,

Gleich Würmern, deren Bildung noch bevorsteht.

Wie wohl, um Söller oder Dach zu stützen,

Aus Stein gebildet wir Gestalten sehn,[187]

Die mit den Knieen ihre Brust berühren,

So daß Unwahres wahre Qual hervorruft

In dem, der solches anschaut; – so beschaffen

Fand ich die Schatten, als ich sorglich hinsah.

Doch waren mehr und minder sie gekrümmt,

Nachdem mehr oder mindre Last sie drückte,

Und wer geduld'ger als die andren aussah,

Sprach weinend – wie es schien – ich kann nicht mehr.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 184-188.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon