Zwanzigster Gesang

[225] Schwer kämpft der Wille wider bess'ren Willen;

Deshalb zog, ungern zwar, ihm zu Gefallen

Den Schwamm ich ungesättigt aus dem Wasser.

Ich ging, und auf dem freien Boden setzte

Die Füße längs der Felsenwand mein Führer,

Wie man auf Mauern nächst den Zinnen geht.

Denn jene Schar, aus deren Aug' in Tropfen

Das Übel abfließt, das die Welt erfüllt,

Naht jenseits sich zu sehr dem äußern Rande.

Vermaledeiet sei'st du, alte Wölfin,

Die du mehr Beute hast als andre Tiere,

Weil ewig unersättlich ist dein Hunger!

O Himmel, dessen Kreisen man die Wandlung[225]

Der irdischen Begebenheiten zuschreibt,

Wann wird der kommen, dem dies Tier muß weichen?

Nur klein und langsam waren unsre Schritte;

Ich aber ging und merkte auf die Schatten,

Die rührend klagen ich und weinen hörte.

Zufällig hört' ich vor uns: O Maria,

Du süße! – unter Tränen also rufen,

Wie wohl ein Weib es tut in Kindesnöten.

Ich hörte weiter: Wie so arm du warest,

Das offenbart der Stall uns und die Krippe,

Worin du deine heil'ge Bürde legtest. –

Sodann vernahm ich: Wackerer Fabricius,

Du wolltest lieber mit der Armut Tugend,

Als mit der Sünde großen Reichtum haben. –

So hatten diese Worte mir gefallen,

Daß, um vom Geist, der scheinbar sie gesprochen,

Genau'res zu vernehmen, ich voranschritt.

Noch redete der Geist von den Geschenken,

Die den drei Jungfrau'n Nikolaus machte,

Zur Ehrbarkeit zu leiten ihre Jugend.

O Seele, die so löblich redet, sagt' ich,

Sag' an mir, wer du warst, sag' an, warum

Nur du so wohl verdientes Lob erneuerst?

Nicht unbelohnt soll deine Antwort bleiben,

Denn um des Lebens, das zum Ziel dahinfliegt,

Weg zu vollenden, kehre ich zurück. –

Und er: Du sollst es hören; nicht der Hilfe,

Die ich von dort erwarte, halber, sondern

Weil eh' du starbst, dir so viel Gnade leuchtet:

Ich war die Wurzel jenes argen Baumes,

Der alles Land der Christenheit verdumpfet,

So daß es selten gute Frucht gewährt.

Doch hätten Douay, Lille, Gent und Brügge

Nur Macht genug, so folgte bald die Rache,

Die ich von dem, der alles richtet, fordre.

Man nannte mich dort jenseits Hugo Capet,[226]

Die Ludwig's zeugt' ich alle und die Philipp's,

Von denen Frankreich neuerdings regiert ward;

Mein Vater war ein Schlächter in Paris.

Als, bis auf einen, der die Kutte trug,

Erloschen war das Haus der alten Fürsten,

Fand ich in meiner Hand der Herrschaft Zügel

So sicher ruh'n so große Kraft zu neuem

Erwerbe und an Freunden solche Fülle,

Daß meinem Sohn des Reichs verwaiste Krone

Auf's Haupt gesetzt ward, und mit ihm begann

Die Reihe der gesalbten Schädel jener.

Solange meinem Blut die große Mitgift

Von ganz Provence nicht die Scham benommen,

Taugt' es nicht viel, doch tat es keinen Schaden.

Erst da begann es mit Gewalt und Lüge

Den Länderraub, und nahm sich dann zur Buße

Ponthieu, Gascogne und die Normandie.

Karl zog nach Wälschland, und den Conradin

Ermordet' er zur Buße und nicht minder

Schickt er zur Buße Thomas in den Himmel.

Nicht fern von heute seh' ich eine Zeit,

Da zieht ein andrer Karl von Frankreich aus,

Sich und die Seinen besser noch zu zeichnen.

Er kommt allein und waffenlos; die Lanze,

Die Judas führte, legt er ein, und Florenz

Trifft er damit, daß dessen Wanst zerberstet.

Nicht Landbesitz, wohl aber Schuld und Schande

Wird er gewinnen, um so schwerer wiegend,

Je weniger er solchen Schaden achtet.

Verhandeln wird der Dritte, der schon auszog

Und dann zu Schiff gefangen ward, die Tochter,

Wie die Korsaren tun mit andren Mägden.

O Geiz, was kannst du Schlimm'res noch bewirken,

Da du so sehr gefesselt mein Geschlecht,

Daß es das eigne Fleisch und Blut nicht achtet?

Daß alte Schuld und künft'ge minder scheine,[227]

Seh' ich die Lilien in Anagni einziehn

Und im Statthalter Christum selber fangen.

Verspottet seh' ich ihn zum zweitenmal,

Essig und Gall' erneuern sich, und zwischen

Lebend'gen Schächern seh' ich ihn getötet.

So wild seh' ich den heutigen Pilatus,

Daß hiervon noch nicht satt, er unberufen

Mit gier'gem Segel in den Tempel eindringt.

O Herr des Himmels, wann werd' ich erfreut sein,

Die Rache zu gewahren, die, in deinem

Geheimnis schlafend, deinen Zorn versüßt?

Was von der einz'gen Braut des heil'gen Geistes

Vorhin ich sagte, und was dich bewog,

Um weit're Auskunft dich an mich zu wenden,

Das ist auf alle unsre Bitten Antwort

So lang' es Tag ist; aber bricht die Nacht ein,

Bedienen wir uns umgekehrter Rede.

Pygmalion's gedenken wir alsdann,

Der Dieb, Verräter und Verwandtenmörder

Durch seine Lüsternheit nach Golde wurde;

Des geiz'gen Midas auch und seines Elends,

Das ihm erwuchs aus seinem gier'gen Wunsche,

Der heute noch zum Lachen jeden reizt.

Des tör'gen Achan auch gedenkt ein jeder,

Der von der Beute stahl, weshalb es scheint,

Daß Josua's Zorn selbst hier ihn noch erreiche.

Mit ihrem Mann verklagen wir Sapphira;

Die Tritte preisen wir, die Heliodor

Erlitt, und Polymnestor wird mit Schande

Ringsum genannt, der Polydor gemordet.

Zuletzt noch wird von uns gerufen: Crassus,

Sag' an, wie schmeckt das Gold, du mußt es wissen.

So wie mit mehr und minder raschem Schritte

Zu gehn uns Inbrunst anspornt, also redet

Der eine lauter und der andre leiser.

Drum war zum Guten, das wir Tages reden,[228]

Vorhin ich nicht allein; nur daß hier nahe

Kein andrer seine Stimme laut erhob. –

Schon hatten wir ihn hinter uns gelassen,

Bemüht, so viel als unsre Kraft erlaubte,

Von jenem engen Pfad zurückzulegen,

Als ich den Berg, wie wenn ein Sturz geschähe,

Erbeben fühlte; drob mich Frost befiel,

Wie den zu tun pflegt, der zum Tod geführt wird.

Gewiß, so sehr erzitterte nicht Delos,

Eh' sich Latona dort ihr Nest bereitet,

Um beide Himmelsaugen zu gebären.

Darauf erhob sich rings ein Ruf, so mächtig,

Daß: Fürchte nicht, wenn ich dich führe, sagend, –

Der Meister zu mir trat, mich zu beruh'gen.

»Gott in der Höh sei Ehre« sagten alle,

Soviel von denen ich, die mir so nahe,

Daß ich den Ruf verstand, entnehmen konnte.

Wir standen regungslos und zweifelnd, gleich

Den Hirten, die zuerst dies Lied vernahmen,

Bis es verklang und bis das Beben nachließ.

Dann setzten wir die heil'ge Wandrung fort,

Die Schatten anschau'nd, die am Boden lagen

Und die gewohnten Klagen neu begannen.

Und wenn mich die Erinnerung nicht täuscht,

Bekämpfte nimmer mich Unwissenheit

Mit solchem Trieb, Belehrung zu erlangen,

Als damals ich in meinem Denken fühlte.

Und weder wagt' ich, ob der Eil zu fragen,

Noch wußt' ich Auskunft bei mir selbst zu finden;

Drum ging ich scheu und in Gedanken weiter.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 225-229.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon