Zweiter Gesang

[151] Schon nahte jenem Horizont die Sonne,

Des Mittagskreis in seinem höchsten Punkte

Jerusalem bedeckt, die hochgebaute,

Und, die die Erd' ihr gegenüber umkreist,

Die Nacht stieg aus dem Ganges mit der Wage,

Die ihrer Hand entfällt, wenn sie erstarket;

So daß die roten und die weißen Wangen

Der lieblichen Aurora, wo ich war,

Vor Alter sich allmählich gelber färbten.

Noch waren nahe wir dem Strand des Meeres,

Gleich Leuten, die den Weg sich überlegend,

Im Herzen gehn, doch mit dem Leib verweilen.

Da sieh', wie überrascht vom Morgengrauen

Im fernen Westen, nah dem Meeresspiegel

Rotglühend Mars durch dichte Dünste schimmert,

So schien mir (möcht' ich einst es wiedersehen!)

Ein Licht so eilig über's Meer zu kommen,

Daß keines Vogels Flug an Schnell' ihm gleich ist.

Als ich das Aug' ein wenig abgewendet,

Nur um vom Führer Auskunft zu erbitten,

War größer es und leuchtender geworden.

Dann sah ich Weißes ihm zu beiden Seiten;

Nicht wußt' ich, was es sei, jedoch allmählig

Ward unten andres Weiß noch offenbar.

Noch schwieg mein Meister; aber als das Weiße

Das wir zuerst sah'n, sich als Flügel zeigte,

Und er den Fährmann sicher nun erkannte,

Da rief er: Beuge, beuge schnell die Kniee

Und sieh, die Hände faltend, Gottes Engel!

Nur solche Diener wirst fortan du treffen.

Die Mittel, die der Mensch bedarf, verschmäht er;

Du siehst kein Ruder führt er und die Flügel

Sind über weites Meer sein einzig Segel.[152]

Sieh, wie er aufrecht sie gen Himmel kehret,

Die Luft mit ewigem Gefieder schlagend,

Das sich nicht ändert, wie das Haar des Menschen. –

Je mehr der Gottesvogel nun herankam,

Um soviel leuchtender erschien sein Strahlen,

So daß von Nahem nicht das Aug' ihm Stand hielt,

Und ich es senkte. Jener aber führte

Heran den schnellen Nachen, der so leicht war,

Daß nichts davon das Wasser in sich aufnahm.

Am Steuer stand der gottentsandte Schiffer,

So schön, daß seine Schildrung schon beseligt,

Und innen saßen mehr als hundert Geister.

Sie sangen insgesamt mit einer Stimme:

»Da Israel hinauszog aus Ägypten«

Und was in jenem Psalme mehr geschrieben.

Als dann er mit dem Kreuze sie gesegnet,

Warf sich ein jeglicher behend ans Ufer;

Er aber ging, so schnell als er gekommen.

Fremd schien der Menge, welche nun zurückblieb,

Der Ort: Denn zweifelnd blickten sie umher,

Gleich einem, der da probt, was ihm noch neu ist.

Nach jeder Seit' entsendete die Sonne

Den Tag, und hatte mit den lichten Pfeilen

Den Steinbock von des Himmels Höh' vertrieben.

Zu uns erhoben da die Neugekomm'nen

Ihr Angesicht und sagten: Wißt ihr ihn,

So zeigt den Weg uns zu des Berges Aufstieg. –

Virgil erwiderte: Vermutlich denkt ihr,

Wir sei'n des Ortes kundig; doch wir sind

Fremdlinge hier, nicht anders, als auch ihr seid.

Nur kurz vor euch sind wir auf andrem Wege

Als ihr gekommen, und so schwierig war er,

Daß uns des Berg's Ersteigung nun ein Spiel dünkt. –

Die Seelen aber, die an meinem Atmen

Erraten hatten, daß ich lebend sei,

Verwunderten sich so, daß sie erblaßten.[153]

Wie wohl, um neues zu vernehmen, Leute

Entgegenziehn dem Boten mit dem Ölzweig

Und sich vor dem Gedränge keiner fürchtet,

So hafteten an meinem Anblick diese

Beglückten Seelen alle und vergaßen,

Den Schmuck der Reinigkeit sich zu erringen.

Und aus der Seelenschar hervortrat eine,

Mich zu umarmen mit so großer Liebe,

Daß zur Erwiderung sie mich bewog.

O Schatten, wesenhaft nur für das Auge!

Dreimal umwand ich hinter ihm die Hände

Und dreimal führt' ich sie zur Brust zurück.

Vor Staunen glaub' ich, daß ich mich verfärbte,

Weshalb der Schatten lächelnd von mir wich,

Und als ich vorwärts schritt, um ihm zu folgen,

Mich sanft und freundlich abzustehn ermahnte.

Da ward ich, wer er sei, gewahr und bat ihn,

Daß er, mit mir zu reden etwas weile.

Wie ich im Leib, der sterblich war, dich liebte,

Erwidert' er, lieb' ich von ihm getrennt dich.

Darum verweil' ich; aber warum gehst du? –

Hierher zurückzukehren, mein Casella,

Sagt' ich darauf, schritt ich zu dieser Reise.

Doch was hat dir so viele Zeit genommen? –

Und er darauf: Wenn, der da abruft wen er

Und wann er will, mir diese Überfahrt

Mehrfach verwehrt, geschah mir drum kein Unrecht;

Denn aus gerechtem Willen fließt der seine.

Hat er doch seit drei Monden aufgenommen,

Wer einzugehn verlangt' in rechtem Frieden.

So wurde denn, zum Meeresstrand gewendet,

Wo sich der Salzflut mischt das Tiberwasser,

Auch ich wohlwollend von ihm aufgenommen.

Zu jener Mündung spannt er jetzt die Flügel;

Denn eingesammelt wird zu allen Zeiten

Dort, wer nicht niedersteigt zum Acheron. –[154]

Raubt dir kein neu Gesetz, sagt' ich dagegen,

Des liebevollen Sanges Brauch und Kenntnis,

Der all mein Sehnen zu beruh'gen pflegte,

So wolle meiner Seele, die begleitet

Vom Leib hierherkam und sich schwer beklemmt fühlt,

Ein wenig Labsal durch dein Lied bereiten. –

»Die Liebe, die zu mir im Geiste redet«

Hub er darauf so süß zu singen an,

Daß noch die Süßigkeit mir innen nachtönt.

Mein Meister, sowie ich und jene Seelen,

Die mit ihm kamen, schienen so beseligt,

Als läge keinem sonst etwas im Sinne.

Wir gingen ganz vertieft in seine Töne;

Da stand der würd'ge Greis vor uns und schalt:

Was soll das heißen, ihr saumseligen Geister?

Welch Säumen ist das, welche Lässigkeit?

Zum Berge eilt, die Hülle abzustreifen,

Die offenbar euch Gott nicht werden läßt! –

Wie Tauben, die versammelt sind zum Futter,

Schweigsam und ohne den gewohnten Hochmut

Die Haferkörner picken, oder Trespen,

Sobald, was ihnen Frucht bringt, sie gewahren,

Weil sie nun Wichtig'res zu sorgen finden,

Ablassen alsobald von ihrer Atzung,

So sah ich jene neugekommene Schar

Sich vom Gesange ab, zum Berge wenden,

Wie wer nicht weiß, wohin sein Weg ihn führe.

Und unser Aufbruch war nicht minder eilig.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 151-155.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Pascal, Blaise

Gedanken über die Religion

Gedanken über die Religion

Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.

246 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon