|
[233] Schon war der Engel hinter uns geblieben,
Der Engel, der uns wies zum sechsten Kreise,
Und hatt' ein Mal getilgt von meiner Stirne.
Die nach Gerechtigkeit verlangen, selig
Gepriesen hatte er und seine Stimme
Mit »dürstet« ohne weiteres geschwiegen.
Ich aber, leichter als bei andren Pässen,
Ging solchen Schrittes, daß ich ohne Mühe
Den Berg empor den raschen Geistern folgte.
Und es begann Virgil: Die Liebe, welche
Entflammt durch Tugend ward, entflammt die andre,
Sobald die Flamme offenbar geworden.
Drum seit dem Tag' an welchem Juvenal
Zu uns herabstieg in der Hölle Vorhof
Und deine Neigung offenbar mir machte,
Fühlt' ich für dich Wohlwollen, wie kein größres
Für jemand, den man nie gesehn, gefühlt ward.
Nun werden kurz mir diese Treppen scheinen.
Doch gib mir Auskunft und als Freund vergib mir,
Läßt zu viel Kühnheit mir den Zügel schießen,
So daß als Freund zum Freund du mit mir redest:
Wie konnte Geiz nur bei so vieler Einsicht,
Als du gewonnen hast durch deinen Eifer,
In deinem Herzen eine Stätte finden? –
Zuerst bewogen Statius diese Worte
Etwas zum Lächeln; dann gab er zur Antwort:
Von Liebe zeugt mir jedes deiner Worte.
In Wahrheit, oft erscheinen Dinge, welche
Zum Zweifel Anlaß bieten, der doch falsch ist,
Weil unerkannt die wahren Gründe blieben.
Mir zeigt die Frage, die du tust, du glaubest,
Vielleicht des Kreises wegen, wo ich weilte,
Daß ich im andren Leben geizig war.[234]
So wisse denn, daß mir nur allzu kerne
Der Geiz gelegen, und dies Übermaß,
Es ward bestraft durch Tausende von Monden.
Und hätt' ich mein Bestreben nicht gebessert,
Als ich die Stelle las, wo du der Menschen
Geschlechte, wie von Zorn ergriffen zurufst:
»Was zügelst du, geweihter Goldeshunger,
Die Leidenschaft der Menschen nicht?« so wälzt' ich
Im argen Wettkampf wohl dort unten Felsen.
Da sah' ich ein, daß auch zu weit die Flügel
Die Hände auftun können, wenn sie geben,
Und diese Schuld bereut' ich gleich den andren.
Geschornen Hauptes auferstehn wird mancher,
Weil aus Unwissenheit er diese Sünde
So lebend wie im Tode nicht bereute.
Nun wisse, daß die Schuld, die einer Sünde
Im graden Gegensatze widerspricht,
Mit ihr zugleich ihr grünes Holz hier trocknet.
Drum, wenn zu meiner Läuterung bei denen
Geweilt ich habe, die den Geiz beweinen,
So ist's geschehn des Gegensatzes wegen. –
Der Hirtenlieder Dichter sagte drauf:
Als du die grausenhaften Waffen sangest,
Die der Jocasta Doppeltrauer brachten,
Scheint es nach dem, wie Clio dort die Saiten
Mit dir berührt, daß dir der Glaube fremd war,
Bei dessen Mangel, recht zu tun nicht hinreicht.
Ist's also, welche Sonne, welche Kerzen
Erleuchteten dich so, daß du die Segel,
Dem Fischer nachzufolgen hast gerichtet? –
Und er zu ihm: Du hast mich zum Parnasse
Zuerst gesandt, aus dessen Born zu trinken;
Du warst es auch, nächst Gott, der mich erleuchtet.
Du tatest, wie wer bei der Nacht die Leuchte
Nach rückwärts hält, so daß sie ihm nichts fruchtet,
Wohl aber die belehrt, die nach ihm kommen,[235]
Indem du sagtest: »neu wird das Jahrhundert,
Gerechtigkeit und goldne Zeit kehrt wieder,
Herab vom Himmel steigt ein neuer Sprößling«.
Du machtest mich zum Dichter, du zum Christen;
Doch, daß du, was ich zeichne, besser sehest,
Reg' ich die Hand, es weiter auszumalen.
Schon war die Welt nach allen Seiten schwanger
Vom wahren Glauben, welcher ausgelä't war
Durch die Verkündiger des ew'gen Reiches.
Und weil dein Wort, das ich vorhin erwähnte,
So wohl entsprach der neuen Pred'ger Rede,
Gewöhnt' ich mich, sie häufig heimzusuchen.
Und es erschien ihr Wandel mir so heilig,
Daß, während Domitian sie schwer verfolgte,
Mein Weinen ihren Tränen sich gesellte.
Ich unterstützte sie, solang' ich jenseits
Verweilte, und die Reinheit ihrer Sitten
Hieß alle andren Sekten mich verachten.
Und eh' ich dichtend zu den Flüssen Thebens
Die Griechen führte, ward ich schon getauft;
Doch hielt aus Furcht geheim ich meinen Glauben
Und stellte lange Zeit mich noch als Heiden.
Den vierten Kreis ließ diese Lauigkeit
Mehr als vierhundert Jahr lang mich umkreisen.
Du aber, der den Schleier mir gehoben,
Der jenes Gut mir barg, das ich bezeichnet,
Berichte, weißt du es, so lang zu steigen
Wir haben, wo Terenz verweilt, der alte,
Wo Varro, Plautus, wo Cäcilius, sag' auch,
Ob sie verdammt sind und an welcher Stelle? –
Sie alle, Persius, ich und noch viel andre
Sind mit dem Griechen, den die Musen mehr,
Als jemals wen getränkt, im ersten Ringe
Des blinden Kerkers, sagte drauf mein Führer,
Und von dem Berg, den unsre Nährerinnen
Stets bei sich sieht, besprechen wir uns oftmals.[236]
Euripides und Antiphon sind bei uns,
Auch Agathon, Simonides und andre
Hellenen, die die Stirn mit Lorbeer schmückten.
Von deinen Helden sieht man dort Argia,
Deiphile und mit Antigone
Ismene, traurig, wie sie sonst gewesen.
Man sieht die dem Adrast Langia zeigte,
Auch des Tiresias und der Thetis Tochter,
So wie Deidamia mit den Schwestern. –
Verstummt war schon der beiden Dichter Rede;
Vom Steigen frei und von den Felsenwänden,
Entsandten rings sie aufmerksame Blicke.
Es waren von des Tages Dienerinnen
Schon vier zurückgeblieben und noch lenkte
Der Deichsel glühndes Horn die fünfte aufwärts.
Da sprach mein Führer: Längs dem Felsenrande,
Vermut' ich, soll'n wir rechts die Schultern wenden,
Den Berg umkreisend, so wie wir gewohnt sind. –
So ließen wir vom Brauch den Weg uns weisen
Und schritten vor mit größerem Vertrauen,
Bei jenes werten Schattens Einverständnis.
Sie wandelten voraus; nach ihnen folgte
Ich einsam und auf ihre Reden merkend,
Die Einsicht in die Dichtkunst mir erschlossen.
Da unterbrach die traulichen Gespräche
Ein Baum, den mitten wir im Wege trafen
Mit Früchten würzigen und süßen Duftes.
Und wie nach obenhin die Tanne abnimmt
Von Ast zu Ast, so tut der Baum nach unten:
Vielleicht damit ihn niemand mög' ersteigen.
Zur Seite, wo den Weg die Bergwand abschloß,
Fiel von dem hohen Fels ein klares Naß
Und netzte niederträufelnd all die Blätter.
Dem Baume nahten sich die beiden Dichter,
Und aus dem Laub' hervor rief eine Stimme:
Von dieser Speise sollt ihr euch enthalten. –[237]
Dann sagte sie: Maria dachte mehr,
Daß ehrenhaft die Hochzeit sei und völlig,
Als an den eignen Mund, der jetzt für euch spricht.
Die Römerinnen alter Zeit begnügten
Mit Wasser sich zum Trank, und Daniel
Verschmähte Speisen und erwarb sich Weisheit.
Die erste Zeit, die schön war gleich dem Golde,
Gab Wohlgeschmack durch Hunger selbst den Eicheln
Und machte jeden Bach durch Durst zum Nektar.
Die Speisen, die den Täufer in der Wüste
Ernährten, waren Heuschrecken und Honig;
Drum ward er glorreich und so groß vor allen,
Als offenbart euch ist im Evangelium. –
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.
64 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro