Säß' ich ohne Aug' und Ohr vor der Welt ...

[257] Säß' ich ohne Aug' und Ohr vor der Welt, die Leid und Liebe tauscht,

Hört' ich doch, wenn's Kleid der Liebsten um mich rauscht;

Säh' ich doch, ob sie errötend stille hält

Und mein Herz wie's Uhrwerk stumm belauscht;

Hörte, ob ihr Haar im Kissen knistert neben mir;

Würde an dem Pochen ihrer Brüste wissen,

Ist der Mai am Fenster voll Gelüste,

Ist es Nacht oder Tag, wenn sie meine Lippen küßte;

Wüßte, ob sie totenblaß ist, und ich sterben müßte.


Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 257.
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